Angelique Der Gefangene von Notre Dame
entlangführte. Trotz der Kälte hing der abgestandene Geruch des fauligen Wassers in der Luft. Die Reiter und Kaufleute, die die Stadtgrenze an der Porte Saint-Antoine erreichten, machten halt, um den Stadtzoll zu entrichten. Einen Moment lang war Angélique abgelenkt vom Eintreffen einer Gruppe Zigeuner, die man auch Ãgypter nannte. Die Frauen saÃen auf mageren Kleppern zusammen mit ihren Kindern, deren Augen dunkel und wild dreinblickten. Die stolzen Männer mit ihren Rapieren und Federhüten stritten lange mit dem Zöllner. SchlieÃlich lieÃen sie kleine Affen vor ihm tanzen, und da der Mann seinen Spaà an der Vorstellung hatte, sahen sie ihre Schuld als beglichen an und zogen triumphierend in Paris ein.
Kurz darauf fuhr eine prächtige, von Läufern begleitete Kutsche vorbei, und im Inneren erkannte Angélique die Gesichter von Madame Fouquet und ihrer Tochter. Sie glaubte sich zu erinnern, dass der Oberintendant der Finanzen früher in dieser Gegend gewohnt hatte und prunkvolle Gesellschaften zu geben pflegte.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass er irgendwann die gerechte Strafe für all seine Verbrechen erhält, dachte sie.
SchlieÃlich wohnte er ja gar nicht so weit von der Bastille entfernt.
Endlich sah Angélique Desgrez, der von der Zugbrücke her auf sie zukam. Ihr Herz begann in vager Sorge zu klopfen. Der Gang des Advokaten und sein Gesichtsausdruck erschienen ihr merkwürdig.
Er rang sich ein Lächeln ab und begann dann hastig zu reden, doch sie hatte das Gefühl, dass sein heiterer Tonfall aufgesetzt klang. Er sagte, dass es ihm ohne gröÃere Mühe gelungen sei, Monsieur de Peyrac zu sehen, und dass der Gouverneur sie sogar eine Weile allein gelassen habe. Sie waren sich darüber einig geworden, dass Desgrez die Verteidigung übernehmen sollte.
Zwar hatte der Graf anfangs keinen Advokaten haben wollen, denn er war der Ansicht, wenn er darin einwilligte, bedeute das gleichzeitig auch seine Zustimmung dazu, vor ein gewöhnliches Gericht gestellt zu werden und nicht vor das Parlamentsgericht, wie er verlangte. Er hatte sich ursprünglich selbst verteidigen wollen, aber nach kurzer Unterhaltung mit dem Advokaten habe er dessen Hilfe schlieÃlich angenommen.
»Ich bin überrascht, dass mein Gemahl so schnell nachgegeben hat«, wunderte sich Angélique. »Er fühlt sich so leicht in seinem Stolz angegriffen, und ich hatte eher befürchtet, dass Euch ein harter Kampf bevorstünde. Denn Ihr müsst wissen, dass er unübertrefflich darin ist, logische Argumente für seine Ansichten zu finden!«
Der Advokat runzelte die Stirn, als litte er unter starken Kopfschmerzen, und bat die Tochter des Wirts, ihm eine Pinte Bier zu bringen.
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»Euer Gemahl hat beim Anblick Eurer Schrift nachgegeben«, sagte er schlieÃlich.
»Er hat meinen Brief gelesen? Hat er sich darüber gefreut?«
»Ich habe ihn ihm vorgelesen.«
»Warum? Er...«
Sie verstummte und murmelte mit tonloser Stimme: »Wollt
Ihr damit sagen, dass er nicht in der Lage war, ihn selbst zu lesen? Warum? Ist er krank? Redet schon! Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Unbewusst hatte sie das Handgelenk des jungen Mannes gepackt und grub ihre Fingernägel in sein Fleisch.
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Er wartete, bis die junge Kellnerin wieder fort war.
»Ihr müsst jetzt stark sein«, sagte er mit aufrichtigem Mitgefühl. »Es ist auf jeden Fall besser, wenn Ihr alles wisst. Der Gouverneur der Bastille hat mir nicht verschwiegen, dass der Graf de Peyrac im Vorfeld des Prozesses der peinlichen Befragung unterzogen wurde.«
Angélique wurde aschfahl.
»Was haben sie mit ihm gemacht? Haben sie seine armen Glieder endgültig gebrochen?«
»Nein. Aber die Spanischen Stiefel und das Strecken haben ihn sehr geschwächt, seitdem kann er nur noch liegen. Und das ist noch nicht das Schlimmste. Während der Gouverneur fort war, hat er mir einige Einzelheiten über den Exorzismus berichtet, den der Mönch Bécher an ihm vorgenommen hat. Er versichert, dass der Stift, den dieser für eine der Prüfungen benutzt hat, manipuliert war, sodass ihm immer wieder eine lange Nadel ins Fleisch stach. Diese bereitete ihm so unerträgliche Schmerzen, dass er nicht umhin konnte, mehrmals aufzuschreien, was von den Zeugen natürlich sehr ungünstig ausgelegt wurde. Die besessene Nonne konnte er jedoch nicht zweifelsfrei
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