Angelique Der Gefangene von Notre Dame
Jetzt verstand sie das Zögern der Jesuiten und den Grund für das Ausbleiben eines Briefs aus Rom, in den sie so lange alle Hoffnung
gesetzt hatte. Der König erkannte also keinen Herrn mehr an. Es gab nur noch eine Hoffnung für Joffrey de Peyrac: dass das Gewissen der Geschworenen stärker sein würde als ihre Unterwürfigkeit dem König gegenüber.
Mit einem Mal senkte sich Schweigen auf das Halbrund herab und holte die junge Frau wieder zurück in die Wirklichkeit. Ihr Herzschlag setzte aus.
Sie hatte Joffrey gesehen.
Auf zwei Krücken gestützt, humpelte er mühsam herein. Sein Hinken hatte sich verstärkt, und bei jedem Schritt hatte man das Gefühl, er werde das Gleichgewicht verlieren.
Er wirkte auf sie gleichzeitig sehr groà und sehr gebeugt, auÃerdem war er erschreckend mager. Nach den langen Monaten der Trennung, die die Erinnerung an die geliebte Gestalt verwischt hatten, sah sie ihn nun mit den Augen des Publikums und bemerkte entsetzt sein auffälliges, geradezu beunruhigendes Ãu Ãeres. Joffreys üppiges schwarzes Haar, das ein von tiefen roten Narben zerfurchtes, gespenstisch bleiches Gesicht einrahmte, seine verschlissenen Kleider, seine hagere Silhouette, das alles verfehlte seine Wirkung auf die Menge nicht.
Als er den Kopf hob und sein funkelnder schwarzer Blick in einer Art spöttischer Ãberlegenheit langsam über die Reihen strich, verflog das Mitleid, das manche bei seinem Eintritt überkommen hatte, und ein feindseliges Murmeln durchlief den Zuschauerraum. Dieser Anblick übertraf alles, was man sich erhofft hatte. Das war ein echter Hexenmeister!
Eingerahmt von seinen Bewachern, blieb der Graf de Peyrac vor dem Sünderbänkchen stehen, auf dem er nicht niederknien konnte.
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In diesem Moment kamen etwa zwanzig bewaffnete königliche Gardisten durch zwei Türen herein und verteilten sich in dem riesigen Saal.
Der Prozess begann.
»Messieurs, das Gericht!«, verkündete eine Stimme.
Alle Anwesenden erhoben sich, und durch die Tür hinter dem erhöhten Bereich traten mit Hellebarden bewaffnete Gerichtsdiener in Uniformen aus dem sechzehnten Jahrhundert mit Halskrause und federgeschmücktem Barett ein. Ihnen folgte eine Prozession von Richtern in Robe, Hermelinkragen und Barett.
Der Erste in der Reihe war recht alt und von Kopf bis Fuà schwarz gekleidet. Nur mit Mühe erkannte Angélique in ihm den Kanzler Séguier, den sie beim feierlichen Einzug des Königs in so prächtigen Gewändern erblickt hatte. Der Mann hinter ihm war groà und hager. Er trug eine rote Robe. Dann kamen wieder sechs schwarz gekleidete Männer. Einer von ihnen trug ein kurzes rotes Mäntelchen. Das war der Sieur Masseneau, der Präsident des Toulouser Parlaments, der zu diesem Anlass sehr viel nüchterner gekleidet war als bei ihrer Begegnung auf der StraÃe nach Salsigne.
»Der schwarz gekleidete Alte vorneweg ist der Oberste Gerichtspräsident Séguier«, kommentierte Maître Gallemand in der Reihe vor Angélique halblaut. »Der Mann in Rot ist Denis Talon, der Generaladvokat des Königlichen Rats und Hauptankläger. Das rote Mäntelchen gehört Masseneau, einem Parlamentsrat aus Toulouse, der für diesen Prozess zum vorsitzenden Richter ernannt wurde. Der Jüngste von ihnen ist der Prokurator Fallot, der sich Baron de Sancé nennt und nicht zögert, die Gunst des Hofes dadurch zurückzugewinnen, dass er über den Angeklagten zu Gericht sitzt, obwohl dieser ein naher angeheirateter Verwandter von ihm sein soll.«
»Wie bei Corneille also«, bemerkte der Grünschnabel mit dem gepuderten Haar.
»Mein Freund, ich sehe, dass du, wie alle flatterhaften jungen Leute deiner Generation, diese Theatervorstellungen besuchst, denen kein Jurist, der etwas auf sich hält, beiwohnen könnte,
ohne dass man ihn für einen oberflächlichen Geist hielte. Und doch, glaub mir, wirst du dort niemals eine schönere Komödie sehen als die, die heute hier aufgeführt wird...«
Im allgemeinen Stimmengewirr konnte Angélique den Rest nicht mehr verstehen.
Sie hätte gern gewusst, wer die übrigen Richter waren. Desgrez hatte nicht erwähnt, dass es so viele sein würden. Aber eigentlich war das auch egal, da sie auÃer Masseneau und Fallot ohnehin niemanden von ihnen kannte.
Wo blieb ihr Advokat?
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Dann sah sie, wie er durch die gleiche Tür
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