Angelique Der Gefangene von Notre Dame
hereinkam wie zuvor die Richter. Ihm folgten mehrere ihr unbekannte Mönche. Die meisten von ihnen setzten sich in die erste Zuschauerreihe, wo offensichtlich Plätze für sie freigehalten worden waren.
Angélique war besorgt, weil Pater Kiher nicht bei ihnen war. Aber auch Bécher war nirgends zu sehen, und sie seufzte erleichtert.
Inzwischen herrschte vollkommene Stille. Einer der Mönche sprach ein Segensgebet, dann hielt er dem Angeklagten ein Kruzifix hin, das dieser küsste, ehe er sich bekreuzigte.
Angesichts dieser Geste der Demut und Frömmigkeit durchlief eine Woge der Enttäuschung den Saal. Würde man ihnen das Spektakel der Hexerei vorenthalten und stattdessen bloà das simple Urteil in einem Streit unter Adligen präsentieren?
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»Zeigt uns die Taten Luzifers!«, forderte eine schrille Stimme.
Eine Bewegung teilte die Reihen: Einige Wachen stürzten sich auf den respektlosen Zuschauer. Der junge Mann und ein paar seiner Gefährten wurden rücksichtslos gepackt und unverzüglich nach drauÃen gezerrt.
Dann wurde es wieder still.
»Angeklagter, leistet den Eid!«, forderte Séguier den Grafen auf, während er gleichzeitig ein Blatt Papier glattstrich, das ein junger Schreiber ihm auf Knien reichte.
Angélique schloss die Augen. Joffrey würde sprechen. Sie rechnete damit, dass seine Stimme schwach und gebrochen klingen würde, und zweifellos hatten das auch die anderen Zuschauer erwartet, denn als sich seine tiefe, klare Stimme erhob, horchten alle verwundert auf.
Zutiefst erschüttert erkannte Angélique die verführerische Stimme wieder, die ihr in den warmen Nächten von Toulouse so viele zärtliche Liebesworte zugeflüstert hatte.
»Ich schwöre, die volle Wahrheit zu sagen. Trotzdem weià ich, Messieurs, dass mir nach dem Gesetz das Recht zusteht, die Zuständigkeit dieses Gerichts zurückzuweisen, denn ich bin selbst Requetenmeister und Parlamentsrat und unterstehe somit allein der Gerichtsbarkeit der groÃen Kammer des Parlaments...«
Der oberste Vertreter der französischen Justiz schien kurz zu zögern, dann entgegnete er mit einer gewissen Hast: »Das Gesetz lässt keinen einschränkenden Eid zu. Schwört, und dieses Tribunal erhält damit die Befugnis, über Euch zu Gericht zu sitzen. Wenn Ihr nicht schwört, wird Euer Fall âºstummâ¹ verhandelt, das heiÃt in contumaciam , als wärt Ihr nicht anwesend.«
»Ich sehe, Monsieur, die Würfel sind bereits gefallen. Daher will ich Euch die Aufgabe erleichtern und verzichte auf sämtliche juristischen Argumentationen, die es mir erlauben würden, dieses Tribunal in Gänze oder teilweise als nicht zuständig zurückzuweisen. Ich vertraue also auf seinen Sinn für Gerechtigkeit und bestätige meinen Eid.«
Der alte Séguier machte keinen Hehl aus seiner scheinheiligen Zufriedenheit.
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»Das Gericht wird die eingeschränkte Ehre zu würdigen wissen, die Ihr ihm zu erweisen scheint, indem Ihr seine Zuständigkeit
anerkennt. Vor Euch hat bereits der König beschlossen, seinem Gerechtigkeitssinn zu vertrauen, und das ist in diesem Fall das Entscheidende. Was Euch betrifft, Messieurs« â er wandte sich an die Richter -, »seid Euch in jedem Moment des Vertrauens bewusst, das Seine Majestät in Euch gesetzt hat. Vergesst nicht, dass Ihr die groÃe Ehre habt, das Schwert der Gerechtigkeit zu vertreten, das unser Herrscher in seinen erhabenen Händen hält. Nun gibt es aber zwei Formen der Gerechtigkeit: diejenige, deren MaÃstäben die Taten der gewöhnlichen Sterblichen, auch der Adligen, unterworfen sind, und diejenige, deren MaÃstäbe für die Entscheidungen eines Königs gelten, denn sein Titel leitet sich von einem göttlichen Recht ab. Möge die Bedeutung dieses Erbes Euch nicht verborgen bleiben, Messieurs. Indem Ihr im Namen des Königs Recht sprecht, tragt Ihr die Verantwortung für seine GröÃe. Und indem Ihr den König ehrt, ehrt Ihr gleichzeitig auch den höchsten Verteidiger des Glaubens in diesem Land.«
Nach dieser recht konfusen Ansprache, in der sich seine Qualitäten als demagogischer Parlamentsvorsitzender mit denen des Höflings zu einer doppeldeutigen Warnung verbanden, zog sich Séguier hoheitsvoll zurück, wobei er sich bemühte, seine Eile zu verbergen. Nachdem er den Saal verlassen hatte, setzten sich alle wieder
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