Angelique Der Gefangene von Notre Dame
hin. Die Kerzen, die noch auf den Pulten brannten, wurden ausgeblasen. Nun herrschte im Saal das gleiche Dämmerlicht wie in einer Krypta, und als die Strahlen der bleichen Wintersonne durch die farbigen Fenster sickerten, breitete sich über einige Gesichter ein blauer oder roter Schleier.
»Der alte Fuchs will nicht einmal die Verantwortung übernehmen, selbst die Anklageschrift zu verlesen«, flüsterte Maître Gallemand, der die Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt hatte, seinen Nebensitzern zu. »Er macht es wie Pontius Pilatus, und wenn es zu einer Verurteilung kommt, wird er nicht zögern, die Schuld dafür der Inquisition oder den Jesuiten zuzuweisen.«
»Das kann er doch gar nicht. Es handelt sich schlieÃlich um ein weltliches Gericht.«
»Pah! Die höfische Gerichtsbarkeit muss den Befehlen ihres Herrn gehorchen und gleichzeitig ihre wahren Motive vor dem Volk verbergen.«
Halb ohnmächtig lauschte Angélique diesen aufrührerischen Worten. Nicht einen Moment lang hatte sie das Gefühl, das alles könne Wirklichkeit sein. Vielleicht war es ein Wachtraum, ja, oder ein Theaterstück... Sie hatte nur Augen für ihren Gemahl, der immer noch stand, leicht gebeugt und schwer auf seine beiden Krücken gestützt. Ein zunächst noch vager Gedanke nahm nach und nach in ihrem Geist Gestalt an.
Ich werde ihn rächen. Alles, was seine Folterknechte ihn haben erleiden lassen, werde ich sie ebenfalls erleiden lassen, und wenn der Teufel tatsächlich existiert, wie es die Religion lehrt, dann soll der Satan ihre falschen Christenseelen zu sich holen.
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Nach dem nicht sonderlich würdevollen Abgang des Obersten Gerichtsvorsitzenden bestieg der groÃe, hagere Generaladvokat Denis Talon feierlich das Podest und brach die Siegel auf einem groÃen Umschlag. Mit schneidender Stimme machte er sich daran, die einzelnen Anklagepunkte vorzulesen:
»Sieur Joffrey de Peyrac, der durch ein privates Urteil des Königlichen Rates bereits all seiner Titel und seines gesamten Besitzes enthoben wurde, ist unserem Gericht überstellt worden, damit es über seine Anklage wegen Hexerei und Zauberei sowie alchemistischer Praktiken zur Gewinnung von Edelmetallen befindet, Handlungen also, die in ihrer Gesamtheit sowohl die Religion als auch die Sicherheit von Staat und Kirche bedrohen. Deswegen beantrage ich, dass er und seine etwaigen Helfershelfer wegen all dieser Taten und weiterer Vergehen, die ihm in der Anklageschrift zur Last gelegt werden, auf der Place de
Grève verbrannt werden und ihre Asche verstreut wird, wie es Hexenmeistern gebührt, die des Umgangs mit dem Teufel überführt sind. Zuvor beantrage ich jedoch, dass er der peinlichen Befragung unterzogen wird, damit er die Namen seiner Komplizen preisgibt...«
Das Blut pochte so heftig in Angéliques Ohren, dass sie das Ende der Verlesung gar nicht mehr hörte.
Sie kam erst wieder zu sich, als die volltönende Stimme des Angeklagten zum zweiten Mal erklang.
»Ich schwöre, dass alles, was hier gegen mich vorgebracht wurde, falsch ist und von Voreingenommenheit zeugt. AuÃerdem schwöre ich, dass ich in der Lage bin, meine Unschuld allen zu beweisen, die tatsächlich willens sind, unvoreingenommen zu urteilen.«
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Der Anwalt des Königs presste die schmalen Lippen aufeinander und faltete sein Papier wieder zusammen, als ginge ihn der weitere Verlauf dieser Zeremonie nichts mehr an. Er machte ebenfalls Anstalten, sich zurückzuziehen, als unvermittelt der Advokat Desgrez aufstand.
»Hohes Gericht«, erklärte er mit lauter Stimme, »der König und Ihr selbst habt mir die groÃe Ehre erwiesen, mich zum Verteidiger des Angeklagten zu bestimmen. Daher möchte ich mir erlauben, Euch vor dem Abgang des Königlichen Generaladvokaten eine Frage zu stellen: Wie kommt es, dass dieser Antrag vor Beginn der Verhandlung bereits fertig ausformuliert ist und hier sogar versiegelt präsentiert wird, während nichts Dergleichen in der gesetzlichen Verfahrensordnung vorgesehen ist?«
Der gestrenge Denis Talon musterte den jungen Advokaten abschätzig von Kopf bis FuÃ.
»Junger Maître«, entgegnete er schlieÃlich mit verächtlicher Herablassung, »ich sehe, dass Ihr Euch in Eurer Unerfahrenheit nicht mit den Wechselfällen dieses Mandats vertraut gemacht
habt. Ich will Euch sagen, dass zunächst Monsieur Mesmon und nicht
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