Angelique Der Gefangene von Notre Dame
sie jedoch alles sehen und hören konnten. Erstaunt sah Angélique, dass sie neben einer ganzen Reihe weiterer Nonnen aus dem gleichen Orden saÃ, die unter der diskreten Aufsicht eines hohen Geistlichen zu stehen schienen. Angélique fragte sich, was diese Nonnen wohl bei einem Prozess zu suchen hatten, in dem es um Alchemie und Hexerei ging. Später sollte sie erfahren, dass die Ordenstracht, die sie trugen, den Hospitaliterinnen von der heiligen Katharina gehörte, die der Verwaltung der Gefängnisse zugeteilt waren. Die Nonnen nahmen die weiblichen Gefangenen in Empfang, wenn diese in das Gefängnis des Justizpalasts gebracht wurden, weil ihr Prozess kurz bevorstand. AuÃerdem war es ihre Aufgabe, die Ertrunkenen zu waschen und in Leichentücher einzunähen, die aus der Seine gefischt und anschlie Ãend ins Châtelet gebracht wurden, eine Tätigkeit, die, wie man sich denken kann, ein hohes Maà an christlicher Nächstenliebe erforderte.
Desgrezâ Schwester gehörte diesem tapferen Orden an.
Der Saal, der in einem der ältesten Bereiche des Justizpalasts lag, wies ein ausgeprägtes Spitzbogengewölbe auf, an dessen reich verzierten Abhänglingen sich über den Köpfen der Zuschauer eine Flut von Akanthusblättern rankten. Wegen der farbigen Fenster herrschte im Inneren ein trübes Halbdunkel, und ein paar Kerzen steigerten die düstere Atmosphäre noch zusätzlich. Zwei, drei groÃe Ãfen mit blitzenden Kacheln verbreiteten ein wenig Wärme.
Angélique bedauerte, dass sie den Advokaten nicht gefragt hatte, ob es ihm gelungen war, Kouassi-Ba zu holen und sich mit
dem alten sächsischen Bergmann über die heutige Verhandlung zu verständigen.
Vergeblich suchte sie in der Menge nach bekannten Gesichtern.
Noch waren weder der Advokat noch der Gefangene oder die Richter anwesend. Dabei war der Saal inzwischen voll besetzt, und trotz der frühen Stunde standen zahlreiche Zuschauer sogar in den Gängen. Man sah, dass manche wie zu einer Theatervorstellung gekommen waren, oder besser gesagt wie zu einer öffentlichen Rechtsvorlesung, denn ein GroÃteil des Publikums bestand offensichtlich aus jungen Absolventen der Rechtswissenschaften.
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Während die meisten Zuschauer schweigend abwarteten, saà genau vor Angélique eine recht lärmende Gruppe. Gedämpfte Kommentare flogen hin und her, die zweifellos dazu bestimmt waren, ein in der Nähe sitzendes, noch unerfahrenes Publikum zu belehren.
»Worauf warten sie denn noch?«, fragte ein junger Jurist mit üppig gepudertem Haar ungeduldig.
»Darauf, dass die Saaltüren geschlossen werden und der Angeklagte hereingebracht und auf die Sünderbank geführt wird«, antwortete sein Nachbar, dessen breites, pickliges Gesicht aus einem Pelzkragen hervorschaute, gähnend.
»Ist das dieses allein stehende Bänkchen da unten, das nicht einmal eine Rückenlehne hat?«
Ein schmutziger Jurist mit fettigem Haar drehte sich höhnisch grinsend zu der Gruppe um.
»Ihr verlangt doch wohl nicht etwa, dass man für einen solchen Satansjünger auch noch einen bequemen Sessel bereitstellt!«, widersprach er.
»Angeblich kann ein Hexenmeister auf einer Nadel oder einer Flamme stehen«, bemerkte der gepuderte Advokat.
»Das wird man von ihm nicht verlangen«, erwiderte sein dicker Nachbar würdevoll. »Aber er wird auf diesem Schemel knien müssen, vor einem Kruzifix, das unterhalb des Pults des vorsitzenden Richters aufgestellt wird.«
»Das ist immer noch viel zu luxuriös für solche Ungeheuer!«, rief der Jurist mit dem fettigen Haar.
Angélique erschauerte. Wenn die Stimmung im Publikum, das sich aus der Elite der Rechtszunft zusammensetzte, schon so voreingenommen und feindselig war, was war dann von den Richtern zu erwarten, die eigens vom König und seinen Helfershelfern ausgewählt worden waren?
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Doch da erklang erneut die würdevolle Stimme des Advokaten im Pelzkragen.
»Für mich sind das alles nichts als Lügen. Dieser Mann ist genauso wenig ein Hexenmeister wie Ihr oder ich. Wahrscheinlich hat er bloà eine Intrige der GroÃen gestört, und diese haben nach einem legalen Vorwand gesucht, um ihn aus dem Weg zu schaffen.«
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Angélique beugte sich ein Stück vor, um das Gesicht des Mannes besser sehen zu können, der es wagte, eine so gefährliche Meinung offen zu
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