Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
wieder, die sie besuchten, um ihr die Nachricht vom Tod ihrer Mutter zu bringen. Das junge Mädchen empfing sie im Sprechzimmer hinter einem kalten Gitter, wie es die Ordensregel der Ursulinen vorschrieb.
Denis besuchte inzwischen ebenfalls das Jesuitenkolleg. Mit zunehmendem Alter glich er immer mehr Josselin, sodass sie einen Moment lang glaubte, ihren ältesten Bruder wiederzusehen, so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, in seiner schwarzen Schulkluft und dem Tintenfässchen am Gürtel. Sie war so aufgewühlt von dieser Ähnlichkeit, dass sie dem Geistlichen, der ihren Bruder begleitete, nach einem flüchtigen Gruß keine Aufmerksamkeit mehr schenkte und dieser ihr erst seinen Namen nennen musste.
»Ich bin Raymond, Angélique, erkennst du mich nicht mehr?«
Sie schaute ihn eingeschüchtert an. In ihrem, verglichen mit vielen anderen, sehr strengen Kloster begegneten die Nonnen Priestern mit einer frömmlerischen Unterwürfigkeit, die nicht ganz frei war von instinktiver weiblicher Unterordnung unter den Mann. Zu hören, wie einer von ihnen sie duzte, verwirrte sie. Nun war sie es, die die Augen niederschlug, während Raymond sie anlächelte. Mit viel Taktgefühl unterrichtete er sie über das Unglück, das sie alle getroffen hatte, und sprach in einfachen Worten von dem Gehorsam, den die Menschen Gott schuldeten. Irgendetwas hatte sich verändert in seinem langen, schmalen Gesicht mit dem dunklen Teint und den hellen, glühenden Augen.
Er erzählte ihr auch, dass ihr Vater sehr enttäuscht darüber gewesen sei, dass sich seine religiöse Berufung während der vergangenen Jahre, die er bei den Jesuiten verbracht hatte, bestätigt hatte. Nach Josselins Fortgang hatte er zweifellos gehofft, dass Raymond die Rolle des ältesten Sohnes einnehmen würde. Aber der junge Mann hatte das Erbe des Titels zugunsten seiner jüngeren Brüder ausgeschlagen. Er würde seine Studien fortsetzen und die Gelübde ablegen. Auch Gontran hatte den armen Baron Armand enttäuscht. Nach Abschluss seiner Schulzeit hatte er weder in die Armee eintreten noch studieren
wollen. Stattdessen war er nach Paris gegangen, um dort irgendeinen Beruf zu erlernen. Also musste er auf Denis warten, der inzwischen dreizehn Jahre alt war, um den Namen de Sancé wieder in jenem militärischen Glanz erstrahlen zu sehen, der in den Familien des höheren Adels Tradition hatte.
Während der Jesuit redete, betrachtete er seine Schwester, dieses junge Mädchen, das sein rosiges Gesicht an die kalten Gitterstäbe presste, um ihn besser hören zu können, und dessen seltsame Augen im Halbdunkel des Sprechzimmers wie klares Meerwasser wirkten. Ein Hauch von Mitleid schlich sich in seine Stimme, als er sie fragte: »Und du, Angélique, was soll aus dir werden? Was wäre dir am liebsten?«
Sie schüttelte ihr schweres goldfunkelndes Haar und antwortete gleichgültig, sie wisse es nicht.
Eines Tages wurde Angélique de Sancé erneut ins Sprechzimmer gerufen.
Dort wartete der alte Guillaume auf sie, das Haar kaum weißer als früher. Seine unvermeidliche Pike hatte er an die Wand gelehnt.
Er sagte ihr, dass er gekommen sei, um sie zurück nach Monteloup zu holen. Die Ursulinen lächelten und freuten sich für sie, als sie sie auf der Schwelle des Klosters zum Abschied umarmten. Denn in ihren Augen war diese Rückkehr zu ihrer Familie ein Zeichen dafür, dass ihre Eltern einen Ehemann für sie gefunden hatten.
Kapitel 15
B aron de Sancé betrachtete seine Tochter mit unverhohlener Zufriedenheit.
»Diese Nonnen haben ja eine vollendete junge Dame aus dir gemacht, mein kleiner Wildfang.«
»Vollendet? Das muss sich erst noch zeigen«, widersprach Angélique und schüttelte, genau wie früher, schwungvoll ihr lockiges Haar.
In der vom süßlichen Geruch der Sümpfe erfüllten Luft von Monteloup fand sie zu ihrer alten Unabhängigkeit zurück. Sie richtete sich auf wie eine verkümmerte Blume unter einem sanften Regenschauer.
Doch die väterliche Eitelkeit des Barons gab sich nicht geschlagen.
»Auf jeden Fall bist du noch hübscher, als ich gehofft hatte. Dein Teint ist zwar etwas dunkler, als es deine Augen und dein Haar erforderten, aber ich finde, der Kontrast ist recht reizvoll. Mir ist überhaupt aufgefallen, dass die meisten meiner Kinder den gleichen Hautton haben. Ich fürchte, das ist womöglich das letzte Überbleibsel eines Tropfens arabischen Blutes, den fast alle Leute im Poitou in sich tragen. Hast du deinen kleinen Bruder Jean-Marie
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