Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
sich nicht allzu sehr mit der unbestimmten Angst zu befassen, die sich immer noch in ihr regte. Ihre Entscheidung war gefallen. Was auch geschehen mochte, sie würde sie nicht zurücknehmen. Also war es das Beste, nach vorn zu schauen und unbarmherzig alles zurückzuweisen, was ihren Entschluss ins Wanken bringen könnte.
»Mademoiselle! Mademoiselle Angélique!«, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme.
Mechanisch zog sie an den Zügeln, und das Pferd, das schon seit ein paar Minuten nur noch im Schritt ging, blieb stehen.
Als Angélique sich umdrehte, sah sie, dass Nicolas abgesessen war und sie zu sich heranwinkte.
»Was ist denn los?«, fragte sie.
»Steigt ab, ich will Euch etwas zeigen«, flüsterte er geheimnisvoll.
Nachdem der Knecht die Zügel der beiden Tiere um den Stamm einer jungen Birke geschlungen hatte, ging er Angélique voraus in ein dicht belaubtes kleines Wäldchen. Sie folgte ihm. Das frühlingshafte Licht, das durch die frischen jungen Blätter fiel, hatte die Farbe von Angelikablüten. Im dichten Gebüsch sang ein Vogel.
Mit gesenktem Kopf ging Nicolas voraus und blickte sich suchend um. Schließlich kniete er nieder, und als er wieder aufstand, lagen auf seinen geöffneten Handflächen duftende rote Beeren.
»Die ersten Erdbeeren«, sagte er leise, während sein verschmitztes Lächeln ein Funkeln in seinen braunen Augen aufleuchten ließ.
»O Nicolas, lass das«, protestierte Angélique.
Doch vor Rührung traten ihr plötzlich Tränen in die Augen, denn mit dieser Geste gab er ihr den ganzen Zauber ihrer Kindheit zurück, den Zauber von Monteloup, der Streifzüge durch die Wälder, der vom Weißdorn berauschten Träume, der Kühle auf den Kanälen, wohin Valentin sie mitnahm, und der Bäche, in denen sie mit Nicolas Krebse fing. Monteloup, das keinem anderen Ort auf der Welt glich, weil sich dort das süßliche Geheimnis der Sümpfe mit dem herben Mysterium der Wälder verband...
»Weißt du noch«, fragte er leise, »wie wir dich immer genannt haben? Marquise der Engel.«
»Du bist töricht«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Das solltest du nicht, Nicolas.«
Doch schon nahm sie mit vertrauter Geste einzeln die winzigen, köstlichen Beeren von seinen ausgestreckten Händen. Nicolas stand ganz dicht vor ihr, genau wie früher, aber inzwischen
war der magere, flinke Junge mit dem Eichhörnchengesicht viel größer als sie, und aus dem Ausschnitt seines geöffneten Hemds stieg ihr der bäuerliche Geruch seines gebräunten, mit schwarzem Haar bedecken Männerkörpers in die Nase. Sie sah die kräftige Brust, und dieser Anblick verwirrte sie so sehr, dass sie nicht mehr den Kopf zu heben wagte, zu gewiss war sie sich des dreisten, glühenden Blicks, auf den sie treffen würde. Sie naschte weiter voller Genuss von den Erdbeeren, und dieser Augenblick bedeutete ihr unendlich viel.
Ein letztes Mal Monteloup, sagte sie sich. Ein letztes Mal koste ich es aus! Das Beste, was es in meinem Leben je gegeben hat, liegt hier in Nicolas’ braunen Händen.
Der lauwarme Duft der Erdbeeren hatte etwas Tröstliches. Während sie eine nach der anderen aus seinen Händen aufnahm, begann Angélique die Anspannung dieses Morgens zu vergessen, die Worte ihres Vaters, die den Spaziergang mit ihm verdorben hatten, auf den sie sich so gefreut hatte, und auch die erbitterte, harte Unterredung mit dem hugenottischen Verwalter, der hinter seiner umgänglichen Fassade so zielstrebig und unbeirrbar war.
Sie entspannte sich.
Hier war endlich Monteloup, mit allem, was ihm an Sanftem und Vertrautem geblieben war, das sie so nötig brauchte.
Nicolas schien zu erraten, was in ihr vorging. Es war Angélique nicht unangenehm, dass er sie durchschaute, dass er ihre Schwäche erkannte, diesen Taumel, der sie zu ihm hindrängte. Er war Monteloup mit seinem Geschmack, seinen Sehnsüchten und seinen Geheimnissen. Sie schwankte.
Molines hatte eine Last auf ihre Schultern gelegt, deren Gewicht ihre Jugend noch nicht zu tragen vermochte. Noch war es nicht zu spät, um sie abzulehnen, und in diesem kurzen, benommenen Augenblick fühlte sie sich plötzlich frei, als wäre alles von ihr abgefallen.
Und wenn gar nichts geschehen war? Wenn sie gar keine schmerzliche Entscheidung getroffen hatte? Bleiben! Wieder in Monteloup leben!
Es wäre so einfach, erneut dem Lauf der grünen, beinahe reglosen Gewässer zu folgen oder dem gewundenen Weg, der sich durch Moos und Wurzeln in den tiefen Wald hineinschlängelte!
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