Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
Zeit, dass er seine Bestimmung wählt«, erklärte sein Vater zögernd.
Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über das faltige, von dem kurzen weißen Bart eingerahmte Gesicht. Der Greis hob die Hand.
»Es ist wohl wahr, dass in dieser Familie schon andere vor ihm ihre Bestimmung gewählt haben. Müsst Ihr mich denn wirklich auch enttäuschen, mein Sohn?«, fragte er traurig.
»Es liegt mir fern, schmerzliche Erinnerungen wachzurufen, Vater«, verteidigte sich Baron Armand. »Ich selbst habe niemals mit dem Gedanken gespielt, fortzugehen, und ich liebe diese Erde hier mehr, als ich überhaupt zu sagen vermag. Aber ich habe nicht vergessen, wie hart und schwierig meine Lage bei der Armee war. Selbst als Adliger wird man ohne die entsprechenden finanziellen Mittel nicht in einen höheren Rang berufen. Ich war hochverschuldet und manchmal gezwungen, meine gesamte Ausrüstung zu verkaufen, um zu überleben – mein Pferd, mein Zelt, meine Waffen … ja, ich musste sogar meinen eigenen Burschen vermieten. Erinnert Ihr Euch nicht mehr an all die guten Ländereien, die Ihr zu Geld machen musstet, um mich im Dienst zu halten?«
Angélique lauschte gebannt. Sie hatte noch nie einen Seemann gesehen, aber sie stammte aus einem Landstrich, in den durch die Täler der Sèvre und der Vendée der Lockruf des Ozeans wehte. Sie wusste, dass an der Küste, von La Rochelle über Les Sables-d’Olonne bis hinauf nach Nantes, Fischerboote in See stachen, hin zu fernen Ländern, wo man auf Menschen traf, die rot waren wie Feuer oder gestreift wie Frischlinge. Es hieß sogar, dass ein bretonischer Matrose aus der Gegend von Saint-Malo Wilde mit nach Frankreich zurückgebracht habe, denen wie den Vögeln Federn auf den Köpfen wuchsen.
Es dauerte lange, ehe Angélique an diesem Abend in ihrem großen Bett im Turmzimmer einschlief.
Ungeduld erfüllte sie. Groß werden! Groß werden!
Wenn sie größer wäre, würde sie nichts davon abhalten können, selbst zur See zu fahren, um die Wunder fremder Länder zu entdecken.
Kapitel 4
M adame de Sancé hatte gerade einen großen Strohhut auf ihr Kopftuch gesetzt und wollte hinaus in den Gemüsegarten gehen, als der Lärm einer Rauferei sie ins Speisezimmer lockte. Dort traf sie auf Gontran, der sich mit einem verdreckten Bauernjungen balgte. Angélique diente den beiden als Schiedsrichter. Der Schulverweis ihrer beiden ältesten Söhne lag ihr noch schwer auf dem Herzen, und so geriet die Baronin vor Zorn außer sich.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass diese Bauernlümmel kein Umgang für dich sind, Gontran – und noch viel weniger für Angélique. Verschwinde hier, du Bengel!«
Der Junge bedachte die Schlossherrin, die ein Kleid von undefinierbarer Farbe trug und deren bloße Füße in abgelaufenen Schuhen steckten, mit einem höhnischen Blick. Dann kratzte er sich in aller Ruhe den struppigen Schopf.
»Erst muss ich mit dem Baron sprechen«, sagte er. »Der Verwalter vom Schloss hat mich geschickt. Er hat gesagt, es wäre eilig. Hier ist seine Nachricht.«
Er reichte ihr ein zerknittertes Stück Papier, das offensichtlich einmal ein doppelt gefaltetes Blatt gewesen war und weder in einem Umschlag steckte noch mit einem Siegel versehen war. Der Verwalter des benachbarten Schlosses, der Sieur Molines, bat den Baron de Sancé, ihn aufzusuchen, da er mit ihm über eine interessante und dringende Angelegenheit zu reden habe. Nervös knüllte die Baronin das Papier zusammen, ehe sie es wieder zu glätten versuchte.
Als der Junge fort war, ließ Madame de Sancé vor ihren Kindern ihrer Verbitterung freien Lauf.
»Ist es denn zu fassen, in welchen Zeiten wir leben? Müssen wir es tatsächlich dulden, dass so ein dahergelaufener bürgerlicher Nachbar, ein hugenottischer Verwalter wie dieser Molines, sich erdreistet, euren Vater, der von Gottfried von Bouillon persönlich abstammt, einfach zu sich zu bestellen? Ich höre meinen guten Armand schon sagen, dass ›dieser Besuch mit Geschäften zu tun habe, die Frauen nichts angehen‹, aber ich würde zu gerne wissen, welche ehrlichen Geschäfte ein Edelmann mit dem Verwalter des benachbarten Schlosses treiben könnte. Wahrscheinlich geht es schon wieder um diese Maultiere …! Ich könnte ja noch verstehen, wenn es eine Pferdezucht wäre. Meine Familie war immer sehr aufgeschlossen, und wir haben uns nie geschämt, vom seligen Claude Goufrier abzustammen, der im vergangenen Jahrhundert Stallmeister von König Heinrich II. war. Aber
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