Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
Arbeiten an den Stallungen hatten sie abgelenkt.
Sie begann ihre Suche am Waldrand. Nachdem sie sich von ihrem Zechgelage erholt hatte, wunderte sie sich, dass sie Mélusine einfach vergessen hatte. Und wenn schon, sie hatte sich im Dorf gut amüsiert! Wenn auch nicht so sehr wie in den vergangenen Jahren oder bei anderen Festen, dem Tanz um den Maibaum etwa oder dem Aalmarkt. »Sie« hatten ihr den Spaß verdorben mit ihrer Brautsuppe und »ihrer« Art, als würden sie sich jedes Mal über sie lustig machen, wenn sie etwas wissen wollte …
Angélique ging durch das Gras und den Niederwald und erfreute sich am herrlichen Geruch der neuen Blüten.
Auf Lichtungen und im Unterholz suchte sie nach Mélusines Spur. Wenn die Hexe morgens bei Sonnenaufgang zu ihrer ersten Sammelrunde aufbrach, knickte sie hier ein Zweiglein ab und verknotete dort einen Grashalm, um ihren Weg zu markieren. So fand Angélique sie immer wieder, entweder mit kleinen Schritten durch den Wald eilend, immer noch emsig bei der Arbeit, oder manchmal auch beinahe unsichtbar dasitzend. Denn genau wie die Tiere des Waldes besaß Mélusine die Gabe, sich zu verbergen, indem sie mit dem Gewirr der Zweige und den verschiedenen Farben verschmolz, mit denen die Jahreszeiten Laub und Moos überzogen. Doch nie überraschte Angélique sie schlafend oder auch nur den Anschein erweckend, dass sie sich ausruhte. Ihre Augen blieben immer offen, funkelnd und auf der Hut, und oft waren sie das Erste, was Angélique im Halbdunkel entdeckte, während Mélusine, die sie noch gar nicht sehen konnte, sie lächelnd mit ihrer leisen, immer fröhlichen Stimme begrüßte: »Ich habe dich erwartet … Lass uns gehen …!«
Aber an diesem und auch am folgenden Tag streifte Angélique vergeblich durch den Wald. Ohne Mélusines Wegweiser wagte sie nicht, allzu weit zu gehen, und nach ihr rufen mochte sie auch nicht, da die Hexe sie stets ermahnt hatte, nie so laut zu reden, dass jemand auf sie aufmerksam würde.
Schließlich gelangte sie an den oberen Rand der Felswand, in der sich der Eingang zur Höhle der Hexe befand. Doch heute war zwischen den Gräsern dort oben keine Spur vom »Teufelsqualm« zu sehen, der die Vorüberkommenden so erschreckte, dass sie davonliefen. Aber es war ja auch mitten im Sommer, und es herrschte eine drückende Hitze, bei der niemand sein Herdfeuer brennen ließ.
Sorge beschlich Angélique. Was, wenn Mélusine krank war?
Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmerte. Die Einsamkeit der alten Frau erschien ihr so grenzenlos, dass sie wie eine gefährliche tödliche Krankheit anmutete. Wenn man niemanden hat, der sich um einen kümmert, nicht einmal jemanden, der an einen denkt, dann kann der geringste Anlass zum Tod führen, sagte sich Angélique. Mélusine ist gestürzt und kann sich nicht mehr bewegen, vielleicht liegt sie irgendwo im Wald oder in ihrer Höhle, und sie hat nicht mehr viel Zeit... dann wird sie verhungern. »Das Leben ist so zerbrechlich...«, hatte Mélusine oft zu ihr gesagt, während sie ihr erklärte, wie wenig es brauchte, um dieses zerbrechliche Dasein zu bewahren, aber wie unerlässlich dieses Wenige gleichzeitig auch war. Und Angélique wunderte sich, fühlte sie sich doch so kräftig, so voller Leben.
Mélusine hatte niemanden.
Wenn sie im Winter mit ihrem kleinen Pflanzenkorb in die Weiler kam, wagte sich nur selten eine Frau vor die Tür, rannte zu ihr hin und brachte ihr im Austausch gegen ein paar Heilkräuter eine Schale Milch oder ein Stück Brot, ehe sie hastig wieder die Flucht ergriff.
Angélique näherte sich dem Rand der Felswand, und nach einem prüfenden Blick in die Tiefe machte sie sich an den Abstieg, wobei sie sich an Ranken und den kümmerlichen Wacholdersträuchern festhielt. Im Hang war eine in unebenen Stufen verlaufende Spur zu erkennen, zweifellos der steile Weg, den die Bewohnerin der Höhle jeden Tag zurücklegte. Unter sich erkannte sie ein grasbewachsenes Sims, das sich direkt vor dem Eingang der Höhle befinden musste, welche halb hinter einem Vorhang aus Zweigen und Laub verborgen war.
Etwas bewegte sich, und Angélique, die den Abstieg erst halb hinter sich gebracht hatte, sah Mélusines Gesicht, die ihr, von den Geräuschen angelockt, von unten mit spitzbübischer Miene entgegensah.
»Mélusine! Ich dachte schon, du wärst krank.«
Die Hexe lachte ihr schalkhaftes Lachen, das sie wie ein kleines Mädchen erscheinen ließ.
»Krank, ich! Warum machst du dir Sorgen? Ich habe doch
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