Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie hatte ihre Hände schon häufiger auf den Kopf eines Kranken gelegt, um ihm die Schmerzen zu nehmen, aber diesmal musste sie dafür sorgen, dass der Patient still liegen blieb. Um ganz sicher zu sein, sich nicht zu rühren, nicht einmal zu zittern, beschloss Angélique, sich nicht ablenken zu lassen und trotz ihrer glühenden Neugier nicht zu beobachten, was die Heilerin tat. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Trotzdem war sie sich stets
der Bewegung von Mélusines Händen bewusst, die auf dem Umschlag lagen, scheinbar gehalten von dem seltsamen, unartikulierten schwingenden Ton, der von den Lippen der in Trance gefallenen Frau ausging. Manchmal hatte es sogar den Anschein, als käme dieser Gesang gar nicht von ihr, sondern dränge von draußen herein.
Die Töne wurden leiser. Mit einem Mal erschien ihr der Kopf, den sie in den Händen hielt, leichter als zuvor.
»Sieh her.«
Und was sie auf dem aufgeschlagenen weißen Tuch erblickte, sah nicht aus wie ein Krebs, sondern vielmehr wie eine riesige schwarze Spinne mit einem roten Schnabel in der Mitte und sternförmig davon ausgehenden Verzweigungen.
Mélusine blieb mit gesenktem Kopf sitzen und musterte das Gebilde aufmerksam.
»Es ist alles herausgekommen«, sagte sie schließlich leise. »Er wird wieder gesund.«
An diesem Abend half Angélique der Hexe noch, einen neuen Umschlag auf die angeschwollene Wange zu legen. Intensiver Balsamduft hing in der Luft. Dampfschwaden erfüllten die Höhle, sodass sie kaum atmen konnte, und zweifellos entwichen sie durch die Kaminöffnung nach draußen, wo sie über die Heide zogen und die Vorübergehenden in Angst und Schrecken versetzten.
Nach und nach verbrannte Mélusines Feuer all die Umschläge und salbengetränkten Verbände... Angélique hatte die Zeit vergessen. Mélusine musste sie daran erinnern, dass die Nacht hereingebrochen war.
Zum Glück war es nicht das erste Mal, dass sie spät von ihren Ausflügen zurückkehrte. Nounou Fantine hatte ihre Suppe warm gehalten. Noch zwei weitere Tage kehrte sie zu Mélusines Höhle zurück und half ihr, die Verbände zu wechseln und Salben zu mischen. Der Mann rührte sich immer noch nicht,
eingeschlossen in seinem totenähnlichen Schlaf wie in einem fernen Land.
Eines Tages war er fort. Geheilt hatte er sich wieder auf den Weg gemacht.
»Wer war er?«, fragte Angélique noch einmal.
»Ein Wanderer! Ein glückloser Hausierer... Mit der Zeit wären die Menschen vor ihm geflohen. Man hätte ihn für einen Aussätzigen gehalten und mit Steinen nach ihm geworfen …«
Die Hexe betrachtete Angélique mit einem sanften, verschwörerischen Blick.
»Wir haben den Tod aufgeschoben, sagte sie.
ZWEITER TEIL
Der Duft der weiten Welt
Kapitel 6
N ach jenen außergewöhnlichen Erlebnissen in der Höhle der Hexe wurde Angélique allmählich disziplinierter. Sie fand Gefallen am Lernen.
Von nun an nahm sie sich zusammen und blieb im Schloss, wo sie den Unterweisungen lauschte, die Pulchérie ihren Nichten und Neffen je nach Alter und Lerneifer erteilte. Ihr war es zu verdanken, dass Gontran lesen konnte.
Angélique fragte sich, ob sie bei Mélusine nicht Zeugin eines Wunders geworden war. Einer Gnade des Himmels, von denen in der Kirche immer die Rede war. Sie dachte, aus Dankbarkeit dafür sollte sie sich bemühen, ihrer frommen Tante endlich ein Trost zu sein.
Diese traute ihren Augen nicht, wenn sie Angélique züchtig über eine Näharbeit, eine Stickerei oder ihre Schreibübungen gebeugt sah, und begann zu glauben, zu hoffen, dass ihre Gebete erhört worden waren. Und dies umso mehr, als sich ihre Ahnungen bestätigten, dass ihre flatterhafte Nichte in allen Bereichen die Begabteste sei. Angélique stickte sehr hübsch und mühelos. Für das Nähen begeisterte sie sich weniger, aber auch dieser Tätigkeit widmete sie sich mit Geschick und flinken Händen. Was ihr jedoch schwerfiel, war, stundenlang still sitzen zu bleiben. Das geringste Geräusch, das von draußen hereindrang, lockte sie ans Fenster. Der Schlosshof war ihr schon immer wie eine Theaterbühne erschienen, auf der von einem Tag auf den anderen, manchmal sogar von einer Stunde zur nächsten, die unterschiedlichsten Stücke aufgeführt wurden.
Als Angélique eines Tages durch das Fenster dem Regen zuschaute, bemerkte sie verblüfft eine große Zahl von Reitern und rumpelnden Kutschen, die sich auf dem schlammigen
Weitere Kostenlose Bücher