Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
wurde und das Sonnenlicht rot zwischen den riesigen Stämmen des alten Waldes hindurchfiel. Seit Tagen hatte sie wie in einem Fieber gelebt. Hatte sich ausgemalt, wie sie nach La Rochelle gelangte, als Schiffsjunge auf einem der ablegenden Schiffe anheuerte und zu unbekannten Ländern in See stach, wo freundliche Wesen sie, die Hände voller Weintrauben,
empfangen würden. Nicolas war rasch überzeugt. »Matrose werden, das gefällt mir besser, als hier das Vieh zu hüten. Ich wollte schon immer etwas von der Welt sehen.« Ein paar andere kleine Bengel, die lieber durch die Wälder toben wollten, als auf den Feldern zu bleiben, bettelten darum, mitgenommen zu werden. Insgesamt waren sie zu acht, und Angélique, das einzige Mädchen, war ihre Anführerin. Voller Vertrauen in sie wurden die Kinder nicht einmal unruhig, als die Dunkelheit sich auf den Wald herabzusenken begann. Blumen in den Händen und die Nasen mit Brombeersaft verschmiert, gefiel ihnen dieser erste Teil ihrer Expedition ausgesprochen gut. Sie waren seit dem Morgen unterwegs, aber gegen Mittag hatten sie am Ufer eines kleinen Baches haltgemacht, um ihren mitgebrachten Proviant, bestehend aus Käse und Graubrot, zu vertilgen.
Doch Angélique spürte, wie sie ein Schauer durchlief, und plötzlich überfiel sie die Erkenntnis, welche Dummheit sie begangen hatte, mit einer solchen Wucht, dass ihr Mund ganz trocken wurde.
Wir können die Nacht nicht im Wald verbringen, dachte sie. Hier gibt es Wölfe.
»Nicolas«, sagte sie laut, »findest du es nicht auch komisch, dass wir noch immer nicht in Naillé angekommen sind?«
Der Junge wurde nachdenklich.
»Vielleicht haben wir uns verirrt. Ich war einmal mit meinem Vater in Naillé, als er noch lebte, und wenn ich mich recht erinnere, sind wir damals nicht so lange gelaufen.«
Angélique spürte, wie sich eine kleine schmutzige Hand in die ihre schob. Sie gehörte dem jüngsten Kind, das gerade erst sechs Jahre alt war.
»Es wird dunkel«, jammerte der Junge. »Vielleicht haben wir uns ja verlaufen.«
»Aber vielleicht sind wir auch schon ganz in der Nähe«, beruhigte
Angélique den Jungen. »Lasst uns noch ein Stück weitergehen.«
Schweigend machten sie sich wieder auf den Weg. Zwischen dem Geäst wurde der Himmel blasser.
»Ihr braucht keine Angst zu haben, wenn wir das Dorf nicht erreichen, bevor es ganz dunkel wird«, sagte Angélique. »Dann klettern wir zum Schlafen eben auf die Eichen. Da oben können uns die Wölfe nicht sehen.«
Doch trotz ihres gelassenen Tons war ihr ängstlich zumute. Da drang mit einem Mal der silberne Klang einer Glocke an ihr Ohr, und sie seufzte erleichtert auf.
»Das ist das Angelusläuten aus dem Dorf!«, rief sie.
Sie rannten los. Der Weg fiel allmählich ab, und die Bäume standen nicht mehr ganz so dicht beieinander. Plötzlich gelangten sie an den Waldrand und blieben auf der Kuppe eines Abhangs stehen, wie bezaubert von der Erscheinung, die vor ihren Augen aufgetaucht war.
In einer grünen Senke lag sie da, ein stilles Wunder im Herzen des Waldes: die Abtei von Nieul. Die untergehende Sonne tauchte ihre zahlreichen mit blassroten Ziegeln gedeckten Dächer, ihre Glockentürme, ihre fahlen, von Lukarnen und Kreuzgängen durchbrochenen Mauern und ihre großen, verlassenen Höfe in ein goldenes Licht. Die Glocke läutete. Einen Eimer in jeder Hand, ging ein Mönch auf den Brunnen zu.
Von einer unbestimmten religiösen Ehrfurcht erfasst, gingen die Kinder schweigend den Weg hinab zum großen Eingangstor. Die hölzerne Pforte stand ein Stück offen. Sie schlüpften hindurch und gelangten in einen Torvorbau. Ein alter Mönch in einer groben braunen Kutte saß schlafend auf einer Bank, sein weißes Haar wirkte wie eine kleine Schneekrone, die jemand behutsam auf seinen blanken Schädel gesetzt hatte.
Nach der ganzen Aufregung, die hinter ihnen lag, brachen
die kleinen Streuner bei seinem Anblick in nervöses Gelächter aus.
Das lockte einen dicken, gutmütigen Mönch an die Schwelle einer Tür.
»He, ihr Schlingel«, rief er ihnen im Dialekt der Gegend zu, »was ist das für ein ungehobeltes Benehmen!«
»Ich glaube, das ist Bruder Anselme«, flüsterte Nicolas.
Bruder Anselme wanderte hin und wieder mit seinem Esel durch die Umgebung und tauschte Rosenkränze und kleine Fläschchen mit Angelikalikör gegen Weizen und Speck ein. Das war verwunderlich, da in der Abtei kein Bettelorden lebte und sie in Anbetracht der Einkünfte aus ihren Ländereien als sehr
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