Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
die die Karren und den Tross der Artillerie hinter sich herschleppten und dabei von der Kartätsche niedergemäht wurden.
Die prächtigen Wälder Sénard, Chantilly und l’Île-Adam, grüne Kronen von Paris, Rambouillet und Fontainebleau, boten ebenfalls einen apokalyptischen Anblick, finster und hoffnungslos, Zuflucht nicht nur für die ausgehungerte Bevölkerung, die alles verloren hatte, sondern auch für verängstigte Deserteure. Gleichzeitig waren sie ein Schlupfwinkel für Räuber, die sich dort sammelten und die umliegenden Schlösser
und die wenigen Reisenden überfielen, die versuchten, dieser Hölle zu entfliehen. Wie das Wasser von der unaufhaltsamen Flut vorangetrieben wird, breiteten sich Leid, Not und Hunger von dieser gepeinigten zentralen Region nach Westen und Süden in bis dahin verschont gebliebene Provinzen aus. Heerscharen von Bettlern strömten in die Städte und saßen mit ausgestreckter Hand an sämtlichen Toreinfahrten.
Bald gab es in Poitiers mehr Bettelvolk als Geistliche und Schüler.
Die kleinen Zöglinge der Ursulinen teilten an bestimmten Tagen zu festgelegten Zeiten Almosen an die Armen aus, die vor dem Kloster ihre Lager aufgeschlagen hatten. Man lehrte sie, dass auch das zu ihren künftigen Aufgaben als vollendete Damen gehören würde.
Zum ersten Mal sah Angélique das hoffnungslose Elend, das zerlumpte Elend, das wahre Elend mit dem geilen, hasserfüllten Blick. Es rührte sie nicht, brachte sie nicht aus der Fassung, im Gegensatz zu ihren Gefährtinnen, von denen manche in Tränen ausbrachen oder voller Abscheu die Lippen zusammenpressten. Sie hatte das Gefühl, ein Bild wiederzuerkennen, das von jeher in ihr eingeprägt war, die Vorahnung dessen, was das Schicksal für sie bereithalten sollte. Die Nonnen beschuldigten sie, gefühllos zu sein, gleichgültig gegenüber der Not der Armen, der Stellvertreter des leidenden Christus, und behaupteten, sie habe ein kaltes Herz. Angélique verstand nicht, was man ihr vorwarf, was man von ihr erwartete. Sie reagierte auf diesen Anblick mit Verständnis, sie sah sich etwas Vertrautem gegenüber, das sie selbst betraf.
»Hast du Angst davor, dem Widerwärtigen, dem Zeichen des Teufels ins Gesicht zu sehen?«, hatte sie eines Tages eine Stimme gefragt.
Und was sie in diesen zerlumpten Gestalten sah, die sich vor
der Pforte des Klosters voller Boshaftigkeit stritten, war die Krankheit, die sich nach und nach in ihren Körpern festsetzte, bis sie das Fleisch zerfraß und es in den Tod verwandelte. Dagegen gäbe es nur eine einzige Rettung, sagte man ihr: das Gebet und die Unterwerfung unter den Willen Gottes!
Allmählich verschwammen ihre Erinnerungen an eine unsichere, erst langsam aufkeimende Kunst, die sie ein Wesen aus einer anderen Welt gelehrt hatte. Ein Wesen, von dem die anderen behauptet hatten, es sei verflucht, verbannt, von allen verstoßen, und sie müsse es vergessen... Sie wagte nicht einmal mehr, seinen Namen in den Mund zu nehmen. Doch wenn sie den Armen ein Stück Brot gab, wusste sie, dass diese Geste nicht vergebens war, und das tröstete sie. Das Brot ist gut, sagte sie sich. Es war ein Heilmittel der Natur, das diesen verlassenen, verurteilten Körpern half zu überleben, und wenn sie ihnen ihre magere Ration reichte, versuchte sie, sie mit beiden Händen zu berühren, um ihnen Heilung zu schenken, jene Gabe, die die einfachen Leute von Monteloup in ihr gesehen hatten. Doch wenn ihre Gefährtinnen sie dabei beobachteten, stießen sie schrille Schreie aus und verpetzten sie bei den Nonnen …
Die Pest erwachte mühelos in diesem Bodensatz, der die Gässchen verstopfte, während der glühende Juli die Brunnen austrocknen ließ. Ratten kamen aus ihren Löchern an die Oberfläche, um in den Straßen oder den Häusern zu verenden.
Ein paar der Schülerinnen erkrankten. Eines Morgens sah Angélique Madelon nicht auf dem Pausenhof. Sie fragte nach ihr, und man sagte ihr, das Kind sei in den Krankensaal gebracht worden.
Angélique gelang es, heimlich ans Bett ihrer Schwester zu schleichen. Die Kleine bekam kaum Luft, und ihre Haut glühte. Ihr Zustand verschlimmerte sich.
»Vielleicht wird sie sterben«, sagte Hortense mit einer Mischung
aus Bitterkeit und Opferbereitschaft zugleich, als wollte sie sich klaglos in das Unabänderliche fügen. Doch Angélique begehrte auf. Nein, das war unmöglich. Viele Menschen starben rings um sie herum, aber nichts konnte die unantastbare Festung einnehmen, die das alte Schloss
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