Angélique - In den Gassen von Paris
Die Frauen gingen schnellen Schrittes. Ab und zu zuckte die Polackin die Schultern und stieß einen Fluch aus, aber sie widersprach nicht. Sie folgte Angélique mit der Ergebenheit eines Menschen, der schon weit gewandert und vielen nachgefolgt ist, ohne zu begreifen, warum, bei jedem Wetter und auf allen Wegen.
Als sie die Brücke von Charenton erreichten, bemerkten sie unterhalb der Straße Feuer, die auf einer Wiese brannten.
Die Polackin blieb stehen.
»Da sind sie«, flüsterte sie. »Wir haben Glück.«
Sie näherten sich dem Lager. Zweifellos hatte das Wäldchen aus dicken Eichen die Gruppe bewogen, hier eine Rast einzulegen. Zwischen Ästen aufgespannte Planen waren in dieser regnerischen Nacht der einzige Schutz der Zigeuner. Frauen und Kinder saßen an den Feuern. An einem grob zurechtgehauenen Spieß briet ein Hammel. Ein Stück weiter grasten ihre mageren Klepper.
Angélique und ihre Begleiterin traten näher heran.
»Pass bloß auf, dass du sie nicht vergrätzt«, wisperte die Polackin. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie böse sie sind! Sie wären in der Lage, uns in aller Ruhe genau wie diesen Hammel aufzuspießen, und man würde nie wieder etwas
von uns hören. Lass auf jeden Fall mich reden. Ich verstehe ihre Sprache ein wenig …«
Ein großer Bursche mit einer Pelzmütze löste sich aus dem Lichtkreis des Feuers und kam auf sie zu. Sie machten die Erkennungszeichen der Gaunerzunft, die der Mann erwiderte. Daraufhin erklärte die Polackin ihm den Grund ihres Besuchs. Angélique verstand kein Wort von ihrem Gespräch. Sie versuchte, vom Gesicht des Zigeuners abzulesen, was er dachte, doch inzwischen war es so stockfinster, dass sie seine Züge nicht erkennen konnte.
Schließlich zog die Polackin ihren Geldbeutel hervor. Der Mann wog ihn in der Hand, reichte ihn ihr wieder und kehrte an das Lagerfeuer zurück.
»Er sagt, er wird mit seinen Stammesgenossen darüber reden.«
Im eiskalten Wind, der von der Ebene heranwehte, warteten sie. Endlich kehrte der Mann mit demselben gelassenen, geschmeidigen Gang zurück.
Er sagte ein paar Worte.
»Was meint er?«, verlangte Angélique keuchend zu wissen.
»Er sagt … sie wollen das Kind nicht wieder hergeben. Sie finden es schön und anmutig und lieben es jetzt schon. Alles ist gut, wie es ist, sagen sie.«
»Aber das ist doch nicht möglich! Ich will mein Kind«, schrie Angélique.
Sie wollte in das Lager stürzen, aber die Polackin hielt sie mit festem Griff zurück.
Der Zigeuner hatte sein Schwert gezogen. Andere Männer näherten sich.
Die Gaunerin zog ihre Begleiterin zur Straße.
»Du bist ja verrückt! Willst du unbedingt sterben?«
»Das ist nicht möglich«, wiederholte Angélique. »Man
muss doch etwas tun. Sie können Cantor nicht einfach so mitnehmen, weit … weit weg …«
»Mach dir keinen Kopf, so ist das Leben nun einmal. Irgendwann gehen die Kinder immer fort… Ob ein wenig früher oder später ist doch im Grunde egal. Auch ich habe schon Kinder gehabt! Habe ich die geringste Ahnung, wo sie sind? Nein, und trotzdem lebe ich!«
Angélique schüttelte den Kopf, um diese Stimme nicht zu hören. Ein feiner, dichter Regen hatte zu fallen begonnen. Sie musste etwas unternehmen!
»Ich habe eine Idee«, erklärte sie. »Gehen wir nach Paris zurück. Ich will noch einmal zum Châtelet.«
»Gut, also zurück nach Paris«, pflichtete die Polackin ihr bei.
Sie machten sich auf den Weg. Immer wieder traten sie in Schlammpfützen, und Angélique hatte sich in ihren schlechten Schuhen die Füße blutig gelaufen. Der Wind drückte ihr den nassen Rock gegen die Beine. Sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Seit vierundzwanzig Stunden hatte sie nichts mehr gegessen.
»Ich kann nicht mehr«, murmelte sie und blieb stehen, um zu verschnaufen. »Und dabei muss ich rasch handeln, rasch …«
»Warte, hinter uns sehe ich Laternen. Das sind Reiter, die auf dem Weg nach Paris sind. Wir wollen sie fragen, ob sie uns mit aufs Pferd nehmen.«
Kühn stellte die Polackin sich mitten auf die Straße. Als die Gruppe sie erreichte, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme, die aber auch schmeichlerisch klingen konnte:
»He, galante Herren! Habt Ihr nicht vielleicht Mitleid mit zwei hübschen Mädchen, die in Schwierigkeiten stecken? Wir werden uns dann schon erkenntlich zeigen.«
Die Reiter hielten ihre Tiere an. Man sah von ihnen nur die Mäntel, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten, und die durchnässten Hüte. Sie
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