Angels - Meine Rache waehrt ewig
machen. Abermals stand sie am Fuß der finsteren, mit einer Samtkordel abgesperrten Treppe. Sie starrte in die Dunkelheit hinauf. Oben brannten keine Lichter.
Sollte sie es wagen?
Sie zögerte, dann schimpfte sie sich einen Feigling. Die Blonde – Marnie, so hieß sie – war irgendwo in diesem Haus.
Noch bevor sie ihren Entschluss überdenken konnte, kletterte Kristi über die Absperrung und stieg die breite Treppe hinauf. Der ausgeblichene Stufenteppich mit dem Blumenmuster dämpfte ihre Schritte. Der bläuliche Lichtschein ihrer kleinen Taschenlampe leuchtete ihr den Weg.
Da sah sie am Treppenabsatz die dunkle Gestalt eines Mannes in der Ecke stehen.
O Gott!
Sie schnappte nach Luft und griff nach dem Pfefferspray in ihrer Handtasche.
Gerade als sie die Flucht ergreifen wollte, stellte sie fest, dass sich der Mann nicht bewegte. Sie leuchtete ihn mit ihrer Taschenlampe an, und er entpuppte sich als eine Rüstung, die am Fenster des Treppenaufgangs Wache stand.
Kristi lockerte ihre Muskeln und zählte bis zehn.
Dann drückte sie das Rückgrat durch, stieg die verbliebenen Stufen zum ersten Stock hoch und erwartete, einen langen Flur mit einer Reihe von geschlossenen Zimmertüren vorzufinden. Stattdessen öffnete sich der Treppenabsatz zu einer Bibliothek, vollständig ausgestattet mit schmalen, hohen Bücherschränken und einer Leseecke mit Stühlen und einem Fenstersitz. Den Bücherschränken gegenüber war ein Stutzflügel aufgestellt, Notenblätter standen aufgeschlagen über den Tasten, auf dem glänzenden Holz ruhte ein Metronom.
Kristi ging an dem Flügel und den Schränken vorbei. Weiter hinten befand sich ein Flur, der zu einer Zimmerflucht führte: ein Männer- und ein Frauenschlafzimmer, durch ein verschwenderisch ausgestattetes Badezimmer getrennt, das offenbar lange nach dem ursprünglichen Bau des Hauses eingefügt worden war. Ein Bett mit einer blumengemusterten Tagesdecke und dazupassenden Kissen stand vor einem Kamin mit handbemalten Kacheln in einem der Zimmer. Das andere war mit massiveren Möbeln ausgestattet. Über dem wuchtigen steinernen Kamin hing ein Jagdgewehr.
Viele Antiquitäten.
Aber keine blonde junge Frau.
Eine Sekunde lang fragte sich Kristi, ob sie womöglich vorn ins Haus gestürmt, durch die Küche geeilt und durch die Hintertür wieder verschwunden war.
Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht.
Es bestand die Möglichkeit, dass sie hier in diesem großen Haus bloß ihre Zeit verschwendete.
Und trotzdem …
Kristi kam wieder zu dem Treppenaufgang und leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinauf in den zweiten Stock. »Wer A sagt, muss auch B sagen«, murmelte sie und begann die Stufen hinaufzusteigen, die schmaler waren als die unteren. Oben befand sich der besagte Flur mit den Türen zu beiden Seiten.
Die Härchen in ihrem Nacken sträubten sich, als sie sich daran erinnerte, wie sie die verschachtelten, seelenlosen Korridore in der ehemaligen psychiatrischen Klinik Our Lady of Virtue abgesucht hatte und darin auf den Psychopathen gestoßen war. Der Gedanke daran ließ sie innehalten. Wagner House war anders als die alte Nervenheilanstalt, aber das Herumschnüffeln in dem großen dunklen Gebäude erinnerte sie nur zu gut an die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass sie im Krankenhaus gelandet war und jetzt noch an den Folgen litt.
Kristi nahm all ihren Mut zusammen und legte eine Hand auf den ersten Knauf. Langsam öffnete sie die Tür, die in den alten Angeln quietschte.
Großartig. Mach dich nur jedem hier im Gebäude bemerkbar.
Der Raum war als Kinderzimmer eingerichtet. Ein kleines weißes Bett war in eine Ecke geschoben, ein Schaukelpferd mit verblassender Farbe, Mähne und Schwanz aus Hanf, stand in der Nähe des Fensters … und schaukelte sanft.
Vor und zurück auf seinen Kufen.
Als würde ein Gespensterkind darauf reiten.
Kristi hätte beinahe die Taschenlampe fallen gelassen.
In diesem totenstillen, bewegungslosen Haus schaukelte ein Schaukelpferd.
Das Schaukeln wurde langsamer, aber Kristis Herz raste.
Die Schranktür war geschlossen. Sie leckte über ihre Lippen. Sollte sie es wagen, die Tür zu öffnen?
Was, wenn …?
Kristi hielt die Taschenlampe auf Schulterhöhe, legte die freie Hand auf den Knauf – und riss fest daran.
Die Tür schwang auf.
Gab den Blick frei auf ein dunkles, leeres Inneres mit Haken und einer Kleiderstange, sonst nichts. Kein Killer oder Frauenentführer, bereit, sich auf sie zu stürzen, kein
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