Angerichtet
ne Arbeit! Von dem »Such dir ne Arbeit!« bekommen sie erneut einen Lachanfall. Geh arbeiten!, ruft der Bruder. Geh arbeiten, arbeiten, arbeiten! Der Cousin ist wieder nach draußen gegangen, zum Baum mit den Müllsäcken. Er schiebt den Verpackungskarton des Breitbildfernsehers beiseite, und dort steht der Kanister. So ein Militärkanister, ein grünes Modell, wie man es von hinten auf Jeeps kennt. Der Cousin hebt den Kanister am Griff hoch. Leer. Hatte er auch nicht anders erwartet, wer würde denn einen vollen Kanister zum Straßenmüll stellen? Nein, nein, was soll das jetzt werden?, fragt der Bruder, als er den Cousin mit dem Kanister aufkreuzen sieht. Nichts, der Kanister ist leer, was hast du denn gedacht? Die Frau kommt wieder ein bisschen zu sich. Saubande, ihr solltet euch schämen, sagt sie plötzlich in einem merkwürdig gepflegten Ton, der vielleicht noch aus der Vergangenheit stammt, bevor sie abstürzte. Es stinkt hier, sagt der Cousin, wir werden die Bude mal ausräuchern. Er hält den Kanister hoch. Ja, sehr schön, sagt sie, darf ich jetzt endlich mal weiterschlafen? Das Blut an der Nase ist bereits getrocknet. Der Cousin wirft den leeren Kanister – wer weiß,vielleicht sogar extra – neben den Kopf der Frau, in sicherem Abstand, das macht einen gewaltigen Radau, das zwar schon, ist aber nicht so schlimm wie die Müllsäcke und die Schreibtischlampe.
Später – ein paar Wochen darauf – kann man auf den Bildern von Aktenzeichen XY sehr genau erkennen, dass die beiden Jungen, nachdem sie den Kanister geworfen haben, wieder hinausgehen. Sie bleiben ziemlich lange weg. Auf den Aufzeichnungen der Kamera, die in dem Geldautomatenhäuschen hing, ist die Frau im Schlafsack übrigens kein einziges Mal drauf. Die Kamera ist auf die Tür gerichtet, auf Leute, die Geld abheben wollen, man kann sehen, wer Geld abhebt, aber es handelt sich um eine unbewegliche Kamera, der Rest des Häuschens ist nicht im Bild.
An dem Abend, an dem Claire und ich zum ersten Mal die Bilder sahen, befand sich Michel oben in seinem Zimmer. Wir saßen im Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa, mit einer Zeitung und bei einer Flasche Rotwein, dem Rest vom Abendessen. Die Geschichte hatte schon längst in allen Zeitungen gestanden, mehrmals hatte sie es bis in die Nachrichten geschafft, doch es war das erste Mal, dass die Bilder gezeigt wurden. Die Bilder waren ruckelnd, unscharf, und man konnte sofort sehen, dass es sich um Aufnahmen einer Überwachungskamera handelte. Bislang hatten die Leute sehr empört reagiert. Wo in aller Welt soll das noch hinführen? Eine wehrlose Frau … die Jugend … strengere Strafen … – ja, auch der Ruf nach Einführung der Todesstrafe war wieder laut geworden.
So war das bis zur Aussendung von Aktenzeichen XY. Bis zu diesem Zeitpunkt war es doch nicht viel mehr als ein Bericht gewesen, ein schockierender Bericht zwar, das schon, aber dennoch würde sich die Aufregung auch wieder legen, würde auch dieser Skandal abebben und schließlich vergessen werden. Um in unser kollektives Gedächtnis einzugehen, wäre dieser Vorfall nicht bedeutend genug.
Doch die Bilder der Überwachungskamera veränderten alles. Die Jungen – die Täter – bekamen ein Gesicht, auch wenn das Gesicht wegen der schlechten Qualität des Filmmaterials und der Tatsache, dass beide ihre Mützen bis tief über die Augenbrauen hinuntergezogen hatten, nicht so schnell zu erkennen war. Die Zuschauer sahen etwas ganz anderes: Sie sahen, dass die Jungs einen Heidenspaß hatten, dass sie sich vor Lachen fast kugelten, als sie zunächst den Bürostuhl, danach die Müllsäcke, die Schreibtischlampe und schließlich den leeren Kanister auf ihr wehrloses oder jedenfalls unsichtbares Opfer schleuderten. Man sah in ruckelndem Schwarzweiß, wie sie sich mit sportlichem Handschlag beglückwünschten, nachdem sie die Müllsäcke geworfen hatten, wie sie die obdachlose Frau außerhalb des Bildes mit Flüchen überzogen – auch wenn es keinen Ton gab.
Was man vor allem sehen konnte, war ihr Lachen. Genau das war der Moment, der sich in das kollektive Gedächtnis einbrannte. Ein Schlüsselmoment, die lachenden Jungs forderten ihren Platz im kollektiven Gedächtnis. In der Top 10 unseres kollektiven Gedächtnisses erreichten die lachenden Jungen Platz 8, wahrscheinlich standen sie so gerade unter dem vietnamesischen Oberst, der einem Vietcongkämpfer standrechtlich eine Kugel durch den Kopf jagt, aber vielleicht noch über dem Chinesen
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