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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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und Blut unscharf wird. Das soll keine Entschuldigung für das sein, was danach passiert ist, aber es darf auch nicht einfach übergangen werden.
    Drei Jungen wollen Geld ziehen, nicht viel, ein paar Zehnerfür ein letztes Bier in der Kneipe. Jedoch: no way , dass sie sich dort in diesen Gestank stellen, wo man es noch keine zehn Sekunden aushält, ohne würgen zu müssen, genauso gut hätten dort aufgeschlitzte Müllsäcke liegen können.
    Aber dort liegt ein Mensch: ein Mensch, der atmet, ja, der im Schlaf sogar röchelt und schnarcht. Kommt schon, wir suchen uns einen anderen Geldautomaten, sagt der adoptierte Bruder. Vergiss es, sagen die beiden anderen. Das wäre ja wohl noch schöner, dass man noch nicht einmal mehr Geld ziehen kann, weil dort jemand stinkend vor dem Automaten liegt und seinen Rausch ausschläft. Kommt schon, sagt der adoptierte Bruder wieder, wir gehen.
    Aber die beiden anderen finden das zu lasch, sie werden hier Geld abheben, sie werden nicht wer weiß wie viele Straßen weiter zu einem anderen Automaten radeln. Jetzt geht der Cousin hinein und fängt damit an, an dem Schlafsack zu ziehen. He, he, aufwachen. Aufstehen!
    Ich gehe, sagt der adoptierte Bruder. Hier habe ich echt keine Lust drauf.
    Komm schon, Mann, sei doch keine Spaßbremse, sagen die beiden anderen, das geht schnell und danach trinken wir ein Bier. Doch der Bruder sagt noch einmal, dass er hierauf keine Lust habe, zudem sei er auch müde und brauche kein Bier mehr – und dann radelt er tatsächlich davon.
    Der leibliche Bruder will ihn noch zurückhalten. Warte!, ruft er ihm hinterher. Aber der adoptierte Bruder winkt nur kurz und verschwindet um die Ecke. Lass ihn doch, sagt der Cousin. Der ist langweilig. Der ist brav. Der ist ein langweiliger Doofmann.
    Jetzt gehen sie beide hinein. Der Bruder zieht am Schlafsack. He, aufwachen! Igitt!, sagt er, igitt, ist das hier ein Gestank. Der Cousin tritt gegen das Fußende des Schlafsacks. Es ist kein wirklicher Leichengeruch, doch eher Müllsackgeruch, von Müllsäcken mit Essensresten, abgenagten Hühnerknöcheln, verschimmelten Kaffeefiltern. Aufwachen! Allmählich werden die beiden doch bockig, der Cousin und der Bruder, sie werden hier an diesem Geldautomaten Geld ziehen und nicht irgendwo sonst. Natürlich haben sie auf dem Schulfest ein paar Bier getrunken. Eigentlich ist es dieselbe Bockigkeit, mit der ein angetrunkener Autofahrer behauptet, er könne doch wirklich noch selbst fahren – es ist auch dieselbe Bockigkeit, mit der ein Gast zu lange auf einer Geburtstagsparty hängen bleibt und noch ein letztes Bier trinken will (»eins noch«) und dann zum siebenten Mal dieselbe Geschichte erzählt.
    Bitte stehen Sie auf, das hier ist ein Geldautomat. Sie bleiben noch höflich: trotz des Gestanks, der ihnen die Tränen in die Augen treibt, duzen sie die Gestalt nicht. Der Unbekannte, der Unsichtbare, ist zweifellos älter als sie. Also ein Mann, wahrscheinlich ein Penner, aber immerhin noch ein Mann.
    Jetzt kommt aus dem Schlafsack zum ersten Mal ein Geräusch. Es handelt sich um Geräusche, wie man sie in einer solchen Situation ungefähr erwartet: stöhnen, seufzen, unverständliches Murren. Zeichen von Leben. Es klingt am ehesten noch wie ein Kind, das noch liegen bleiben will, heute vielleicht lieber nicht zur Schule gehen will, doch auf die Geräusche folgt Bewegung: Etwas oder jemand streckt sich aus und scheint Anstalten zu machen, einen Kopf oder ein anderes Körperteil aus dem Schlafsack herauszuwinden.
    Sie haben keinen fest umrissenen Plan, der Bruder und der Cousin, vielleicht wird ihnen zu spät bewusst, dass sie eigentlich gar nicht wissen wollen, was sich dort in dem Schlafsack verbirgt. Bislang war es nur ein Hindernis, es hat einen widerwärtigen Geruch verströmt, es gehörte dort nicht hin, es musste weg, aber jetzt müssen wir uns gleich noch mit diesem Etwas (oder Jemand) auseinandersetzen, das gegen seinen Willen aus dem Schlaf gerissen wurde, aus dem Traum. Wer weiß, wovon stinkende Obdachlose träumen, wahrscheinlich von einem Dach über dem Kopf, einer warmen Mahlzeit, Frauund Kindern, einem Haus mit einer Garagenauffahrt, einem süßen, mit dem Schwanz wedelnden Hund, der ihnen über den Rasen mit Rasensprenger entgegenläuft.
    Verpisst euch!
    Es ist nicht so sehr der Fluch, der ihnen einen Schrecken einjagt, sondern eher die Stimme. Sie sprengt gewisse Erwartungsmuster. Man erwartet, dass etwas Unrasiertes aus dem Schlafsack hervorkommt:

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