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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Ton, hätte ich fast noch hinzugefügt.
    »Okay«, sagte Michel. Er nickte kurz mit dem Kopf. »Okay«, wiederholte er.
    Plötzlich erinnerte ich mich an etwas. Eben, als er sein eigenes Handy angerufen hatte, da hatte er gesagt, er würde eine Nummer brauchen. Dass er sein Handy abholen komme, weil er eine Nummer brauchte. Ich meinte nun zu wissen, welcheNummer das war. Aber ich fragte nicht weiter danach. Ich erinnerte mich nämlich noch an etwas anderes.
    »Du hast gesagt, ich würde nicht zuhören«, sagte ich. »Aber ich habe durchaus zugehört. Als wir davon sprachen, dass ihr das Video bei YouTube reingestellt habt.«
    »Ja.«
    »Da hast du gesagt, ihr hättet das nicht getan.«
    »Ja.«
    »Wer hat es denn getan? Wer hat es da reingestellt?«
    Manchmal gibt man die Antwort auf eine Frage, indem man sie sich laut stellt.
    Ich sah meinen Sohn. Und er sah mich an.
    »Faso?«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er.

[Menü]
    27
    Es trat eine Stille ein, die alle Geräusche aus dem Park und von der Straße auf der anderen Seite des Wassers verstärkte. Vögel, die zwischen den Ästen eines Baumes aufflatterten, ein beschleunigendes Auto, eine Kirchturmuhr, die einmal schlug – eine Stille, in der mein Sohn und ich uns ansahen.
    Ich könnte es nicht beschwören, doch ich meinte, etwas Feuchtes in Michels Augen gesehen zu haben. Sein Blick sagte alles.
    Verstehst du es jetzt endlich?, sagte der Blick.
    Plötzlich durchbrach ein Klingeln aus meiner linken Jackentasche die Stille. In den letzten Jahren bin ich etwas schwerhörig geworden, deshalb hatte ich als Klingelzeichen Old Phone eingestellt, ein altmodisches Klingeln, das an alte schwarze Apparate aus Bakelit erinnerte und das ich überall heraushören konnte.
    Ich nahm mein Handy aus der Tasche und wollte den Anruf eigentlich wegdrücken, als ich den Namen des Anrufers auf dem Display erkannte: Claire.
    »Ja?«
    Ich machte Michel ein Zeichen, dass er noch nicht weggehen solle, aber er hatte sich mit verschränkten Armen auf den Lenker seines Fahrrads gestützt und schien es plötzlich mit dem Aufbruch nicht mehr so eilig zu haben.
    »Wo bist du?«, fragte meine Frau. Sie sprach leise, aber mitNachdruck, die Restaurantgeräusche im Hintergrund klangen lauter als ihre Stimme. »Wo bleibst du so lange?«
    »Ich bin draußen.«
    »Was machst du da? Wir sind mit dem Hauptgericht fast fertig. Ich dachte, du würdest gleich kommen.«
    »Ich stehe hier mit Michel.«
    Eigentlich hatte ich »mit unserem Sohn« sagen wollen, aber ich tat es nicht.
    Kurze Stille.
    »Ich komme«, sagte Claire.
    »Nein, warte! Er geht gleich … Michel muss gleich weg …«
    Aber das Telefonat war bereits beendet.
    Papa hat keine Ahnung, und das soll auch so bleiben. Ich dachte an meine Frau, wie sie gleich aus der Restauranttür kommen und wie ich sie dann ansehen würde. Oder besser gesagt: Ob ich sie noch genauso ansehen könnte wie vor ein paar Stunden in der Kneipe mit den Normalos, als sie mich gefragt hatte, ob ich auch der Ansicht sei, dass sich Michel in der letzten Zeit so seltsam verhalten würde.
    Kurz: Ich fragte mich, ob wir noch eine glückliche Familie waren.
    Mein nächster Gedanke betraf das Video mit der in Brand gesetzten obdachlosen Frau. Und die Frage, wie es auf YouTube gelandet war.
    »Kommt Mama?«, fragte Michel.
    »Ja.« Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich meinte eine gewisse Erleichterung aus seiner Stimme herauszuhören, als er mich fragte, ob »Mama« gleich käme. Als ob er hier inzwischen lange genug mit seinem Vater herumgestanden hätte. Sein Vater, der ja doch nichts für ihn tun konnte. Kommt Mama? Mama kommt. Ich musste schnell sein. Ich musste ihn in Schutz nehmen, auf dem einzigen Terrain, auf dem ich ihn noch in Schutz nehmen konnte.
    »Michel«, sagte ich und legte ihm erneut eine Hand auf denUnterarm. »Was weiß Beau … Faso … Wie kommt es, dass Faso etwas von den Videos weiß? Er war da doch bereits auf dem Heimweg? Ich meine …?«
    Michel warf einen schnellen Blick zum Restauranteingang, als würde er hoffen, dass seine Mutter jetzt käme, um ihn von dem qualvollen Zusammensein mit seinem Vater zu erlösen. Auch ich schaute kurz zur Tür. Irgendetwas hatte sich verändert, aber ich wusste nicht sogleich, was es war. Der rauchende Mann, fiel mir dann ein. Der rauchende Mann war weg.
    »Einfach so«, sagte Michel. Einfach so. Das hat er früher auch immer gesagt, wenn er seine Jacke verloren hatte oder seinen Schulranzen auf irgendeinem

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