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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Fußballplatz vergessen hatte, und wir ihn fragten, wie das hatte passieren können. Einfach so … Einfach so liegen gelassen. »Ich habe einfach so Rick meine Videos gemailt. Und da hat Faso sie gesehen, er hat sie sich einfach von Ricks Computer heruntergeladen. Einen Ausschnitt hat er dann bei YouTube reingestellt, und jetzt droht er damit, den Rest auch noch reinzustellen, wenn wir ihn nicht bezahlen.«
    Es gab mehrere Fragen zur Auswahl, die ich jetzt hätte stellen können; eine Sekunde lang überlegte ich, was ein anderer Vater gefragt hätte.
    »Wie viel?«, fragte ich.
    »Dreitausend.«
    Ich sah ihn an.
    »Er will sich einen Motorroller kaufen«, sagte er.

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    28
    »Mama.«
    Michel schlang seine Arme um Claires Hals und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Mama«, sagte er noch einmal.
    Mama war gekommen. Ich sah meine Frau und meinen Sohn an. Ich dachte an die glücklichen Familien. Daran, wie oft ich Michel und meine Frau so betrachtet hatte – und wie ich nie versucht hatte, mich dazwischenzudrängen: und auch das war Bestandteil des Glücks.
    Nachdem sie Michel eine Weile über den Rücken und den Hinterkopf gestreichelt hatte – über die schwarze Mütze –, schaute Claire auf und sah mich an.
    »Was weißt du?«, fragte sie mit ihrem Blick.
    Alles, sah ich zurück.
    Fast alles, verbesserte ich mich und dachte dabei an Claires Nachricht auf der Mailbox ihres Sohnes.
    Da fasste Claire ihn bei den Schultern und küsste ihn auf die Stirn.
    »Weshalb bist du hier, Liebling?«, fragte sie. »Ich dachte, du hättest eine Verabredung?«
    Michels Augen suchten mich; Claire wusste nichts von den Videos, wurde mir in diesem Moment klar. Sie wusste viel mehr, als ich bislang angenommen hatte, aber von den Videos wusste sie nichts.
    »Er kam, um sich etwas Geld zu holen«, sagte ich undschaute Michel dabei weiter an. Claire zog die Augenbrauen hoch. »Ich hatte mir Geld von ihm geliehen. Ich sollte es ihm heute Abend zurückgeben, bevor wir zum Essen ausgingen, aber ich habe es vergessen.«
    Michel senkte den Blick und scharrte mit den weißen Sportschuhen im Kies. Meine Frau starrte mich an, sagte aber nichts. Ich tastete in meiner Hosentasche.
    »Fünfzig Euro«, sagte ich, zog den Schein hervor und hielt ihn Michel hin.
    »Danke, Papa«, sagte er und steckte das Geld in die Jackentasche.
    Claire stieß einen tiefen Seufzer aus und ergriff dann Michels Hand. »Musstest du nicht …« Sie sah mich an. »Es ist besser, wir gehen wieder hinein, sie fragen sich bereits, wo du so lange steckst.«
    Wir umarmten unseren Sohn, Claire gab ihm noch drei Küsse zum Abschied auf die Wange, und dann schauten wir ihm nach, wie er über den Pfad zur Brücke radelte. Auf halber Höhe der Brücke sah es für einen Moment so aus, als wolle er sich noch umdrehen, um uns zu winken, aber er streckte nur einen Arm in die Luft.
    Als er zwischen den Sträuchern auf der anderen Seite außer Sicht verschwunden war, fragte Claire: »Seit wann weißt du es?«
    Ich unterdrückte meine spontane Versuchung, sofort mit der Gegenfrage »Und du?« zu kommen, und antwortete: »Seit Aktenzeichen XY.«
    Sie nahm meine Hand, genauso, wie sie eben Michels Hand genommen hatte.
    »Ach Liebling«, seufzte sie.
    Ich drehte mich halb um, damit ich ihr Gesicht sehen konnte.
    »Und du?«, fragte ich.
    Jetzt griff meine Frau auch nach meiner anderen Hand. Siesah mich mit einem missglückten Lächeln an: ein Lächeln, das uns wider besseren Wissens in alte Zeiten zurückversetzen sollte.
    »Du sollst wissen, dass ich bei allem zuerst immer nur an dich gedacht habe, Paul«, sagte sie. »Ich wollte nicht … ich dachte, es sei vielleicht zu viel. Ich hatte Angst … ich hatte Angst, dass du wieder … na ja, du weißt schon.«
    »Seit wann?«, fragte ich leise. »Wann hast du es gewusst?«
    Claire drückte meine Hand.
    »Noch am selben Abend«, sagte sie. »An dem Abend, als sie beim Geldautomatenhäuschen waren.«
    Ich starrte sie an.
    »Michel hat mich angerufen«, sagte Claire. »Da war es gerade passiert. Er fragte mich, was sie tun sollten.«

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    29
    Als ich noch gearbeitet habe, ließ ich während einer Unterrichtsstunde mitten in einem Satz über die Schlacht bei Stalingrad den Blick durchs Klassenzimmer schweifen.
    Die vielen Köpfe, dachte ich. Die vielen Köpfe, in denen alles verschwindet.
    »Hitler war versessen auf Stalingrad«, sagte ich. »Obwohl es strategisch gesehen viel besser gewesen wäre, gleich nach Moskau durchzustoßen.

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