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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Doch ihm ging es um den Namen der Stadt: Stalingrad, die Stadt, die den Namen seines großen Widersachers Josef Stalin trug. Diese Stadt musste als Erste erobert werden. Wegen des psychologischen Effekts, den eine Eroberung auf Stalin ausüben würde.«
    Ich machte eine Pause und ließ erneut den Blick durchs Klassenzimmer schweifen. Einige Schüler schrieben mit, was ich erzählte, andere sahen mich an; es gab sowohl interessierte als auch glasige Blicke, die auf mich gerichtet waren. Mehr interessierte als glasige, meinte ich, aber eigentlich war mir das da schon egal.
    Ich dachte an ihre Leben, an die vielen Leben, die weitergehen würden.
    »Wegen solch irrationaler Gründe wird ein Krieg gewonnen«, sagte ich. »Oder verloren.«
    Als ich noch gearbeitet habe – es fällt mir noch immer schwer, diesen Satz auszusprechen. Ich könnte hier jetzt ausführlich erläutern, dass ich einmal, in weiter Vergangenheit, andere Pläne für mein Leben gehabt habe, aber das spare ich mir. Die anderen Pläne hat es gegeben, doch es geht niemanden etwas an, was genau sie beinhaltet haben. »Als ich noch gearbeitet habe …« gefällt mir jedenfalls besser als »Als ich noch vor der Klasse gestanden habe …« oder – der allerschrecklichste, der Lieblingssatz der allerschlimmsten Typen, der Ex-Lehrer-Kollegen, die sich selbst als Vollblutpädagogen bezeichneten – »Als ich noch meine Lehrtätigkeit ausübte …«.
    Ich würde gerne dahingestellt sein lassen, was ich unterrichtet habe. Auch das geht niemanden etwas an. Man wird dann so schnell abgestempelt. Oh, er ist xxx-Lehrer, sagen dann die Leute. Das erklärt einiges. Die Antwort auf die Frage, was es denn eigentlich genau erklärt, bleiben sie aber schuldig. Ich unterrichte Geschichte. Ich habe Geschichte unterrichtet. Inzwischen nicht mehr. Vor ungefähr zehn Jahren habe ich aufgehört. Musste ich aufhören – obwohl ich noch immer der Meinung bin, dass sowohl aufhören als aufhören müssen in meinem Fall etwa gleich weit von der Wahrheit entfernt sind. Auf verschiedenen Seiten der Wahrheit, das zwar schon, aber der Abstand ist fast derselbe.
    Es hat damals im Zug angefangen, im Zug nach Berlin. Der Anfang vom Ende, würde ich mal sagen: der Anfang vom Aufhören(müssen). Rechnet man zurück, hat der ganze Vorgang kaum zwei oder drei Monate gedauert. Als es einmal angefangen hatte, ging es recht schnell. Wie bei jemandem, bei dem eine bösartige Krankheit festgestellt wird und der sechs Wochen später bereits tot ist.
    Im Nachhinein bin ich vor allem froh und erleichtert. Das mit dem Unterrichten hat auch wirklich lange genug gedauert. Ich saß alleine am Fenster in einem ansonsten leeren Abteil und schaute hinaus. Eine halbe Stunde waren zunächst nur Birken vor dem Fenster vorbeigezogen, doch nun fuhrenwir durch den Außenbezirk irgendeiner Stadt. Ich sah Wohnhäuser und auch Hochhäuser, die Gärten der Häuser, die oft fast bis an die Gleise heranreichten. In einem der Gärten hingen weiße Bettlaken an der Leine, in einem anderen stand eine Schaukel. Es war November, und es war kalt. In den Gärten war niemand zu sehen. »Vielleicht solltest du mal in Urlaub fahren«, hatte Claire gesagt. »Einfach mal eine Woche raus.« Ihr sei etwas an mir aufgefallen, sagte sie: Ich würde auf alles zu impulsiv und zu heftig reagieren. Das komme bestimmt von der Arbeit, der Schule. »Ich frage mich manchmal, wie du das überhaupt aushältst«, sagte sie. »Du brauchst dich wirklich nicht schuldig zu fühlen.« Michel war noch keine vier, sie würde das schon schaffen, er ging ja drei Tage in der Woche in den Kindergarten, die Tage hätte sie dann für sich.
    Ich hatte an Rom gedacht und an Barcelona, an Palmen und Terrassen, und habe mich schließlich für Berlin entschieden, insbesondere, weil ich dort noch nie gewesen war. Anfangs hatte ich noch eine gewisse Begeisterung verspürt. Ich packte einen kleinen Koffer, ich würde möglichst wenig mitnehmen: travelling light , so wollte ich reisen. Die Begeisterung hielt bis zum Bahnhof an, wo der Zug nach Berlin auf dem Gleis bereitstand. Das erste Stück der Reise verlief noch recht gut. Ohne jegliches Bedauern sah ich, wie die Häuserblöcke und die Gewerbegebiete langsam außer Sichtweite gerieten. Und auch bei den ersten Kühen, Wassergräben und Strommasten hatte ich den Blick vor allem auf das gerichtet, was vor mir lag. Auf das, was kommen würde. Danach wurde die Begeisterung von etwas anderem verdrängt. Ich dachte an

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