Angerichtet
Serge; es klang nicht mehr flehend. »Ich weiß, was du denkst. Du bist auch gleich dran. Wenn ich fertig bin.« Die Speisenden an den Nachbartischen hatten sich wieder über die Teller gebeugt, doch im Bereich der offenen Küche herrschte Unruhe. Ich sah drei Kellnerinnen um »Tonio« und den Maître d’hôtel geschart, sie schauten kein einziges Mal in unsere Richtung, und dennoch hätte ich meinen Käseteller darauf verwettet, dass es um uns ging – genauer gesagt: um mich.
»Babette und ich haben heute Nachmittag mit Rick gesprochen«, sagte Serge. »Wir haben den Eindruck, dass Rick sehr darunter leidet. Dass er es schrecklich findet, was sie getan haben. Es raubt ihm buchstäblich den Schlaf. Er sieht schlecht aus. Es geht zu Lasten seiner schulischen Leistungen.«
Ich wollte etwas sagen, hielt mich aber zurück. Irgendetwas lag in Serges Ton: als wolle er sich bereits im Voraus mit seinem Sohn von unserem distanzieren. Rick konnte nicht schlafen. Rick sah schlecht aus. Rick fand es schrecklich. Es fühlte sich so an, als müssten Claire und ich uns für Michel einsetzen – aber was hätten wir sagen sollen? Dass er noch schlechter als Rick schlief?
Aber das stimmte nicht, wurde mir bewusst. Michel war mit anderen Dingen beschäftigt als mit der verbrannten Obdachlosen im Geldautomatenhäuschen. Und was schwafelte Serge da über Schulleistungen? Es war kaum in Worte zu fassen, wenn man es sich recht überlegte.
Ich beschloss, mich nur zu äußern, wenn Claire protestieren würde. Wenn Claire sagen würde, dass es unangemessensei, in Anbetracht des Geschehenen die Schulnoten anzusprechen, würde ich sagen, dass wir Michels Schulleistungen hier raushalten wollten.
Litten Michels Noten darunter?, fragte ich mich gleich darauf. Ich hatte nicht den Eindruck. Auch in dieser Hinsicht war er hartgesottener als sein Cousin.
»Vom ersten Moment an habe ich versucht, das Ganze losgelöst von meiner politischen Zukunft zu betrachten«, sagte Serge. »Womit ich übrigens keineswegs behaupten möchte, sie nicht mit bedacht zu haben.«
Ganz offensichtlich hatte Babette wieder zu weinen angefangen. Lautlos. Mich beschlich das Gefühl, bei etwas anwesend zu sein, bei dem ich nicht anwesend sein wollte. Ich musste an Bill und Hillary Clinton denken. An Oprah Winfrey.
Ob das so ablief? War das hier die Generalprobe für die Pressekonferenz, auf der Serge Lohman bekannt geben würde, dass der Junge auf den Videos von Aktenzeichen XY sein Sohn war, dass er aber dennoch hoffe, auch weiterhin auf das Vertrauen der Wähler zählen zu können? So naiv war er doch hoffentlich nicht.
»Mir geht es in erster Instanz um Ricks Zukunft«, sagte Serge. »Es kann natürlich sehr gut sein, dass die Sache niemals aufgedeckt wird. Aber kann man damit leben? Kann Rick damit leben? Können wir damit leben?« Er sah zuerst Claire und dann mich an. »Könnt ihr damit leben?«, fragte er. »Ich nicht«, fuhr er fort, ohne erst eine Antwort abzuwarten. »Ich sehe mich demnächst dort stehen, auf der Freitreppe, zusammen mit der Königin und den Ministern. Mit der Gewissheit, dass jeden Moment, auf irgendeiner willkürlichen Pressekonferenz, ein Journalist den Arm heben kann. »Herr Lohman, was stimmt an den Gerüchten, dass ihr Sohn an dem Mord an einer Obdachlosen beteiligt gewesen sein soll?«
»Mord!«, rief Claire. »Ist es nun schon ein Mord? Wie kommst du denn plötzlich darauf?«
Kurz war es still; »Mord« war zweifellos noch vier Tische weiter zu hören gewesen. Serge schaute erst über die Schulter und dann zu Claire.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich spreche zu laut. Aber darum geht es nicht. Ich finde, ›Mord‹ geht nun doch wirklich einen Schritt zu weit. Was sage ich da? Nicht einen, sondern zehn Schritte zu weit!«
Voller Bewunderung sah ich meine Frau an. Sie wurde schöner, wenn sie sich aufregte. Besonders die Augen, ein Blick, der Männer verlegen machte. Andere Männer.
»Wie würdest du es denn nennen, Claire?« Serge hatte seinen Dessertlöffel genommen und fuhr damit ein paar Mal durch sein geschmolzenes Eis. Es war ein Löffel mit einem extra langen Stil, dennoch geriet Eis mit Sahne an seine Fingerspitzen.
»Ein Unglück«, sagte Claire. »Ein unglückliches Zusammentreffen verschiedener Umstände. Keiner, der noch alle Sinne beisammenhat, wird ernsthaft behaupten wollen, die beiden wären an diesem Abend losgezogen, um eine Obdachlose zu ermorden?«
»Aber so sieht man es auf der Überwachungskamera. So
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