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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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geflossen. Mein Bruder erhob sich vom Stuhl, ich hatte zunächst gedacht, er hätte Angst, dass ihm Wein auf die Hose tropfen könnte, aber er schob den Stuhl zurück und stand auf.
    »Ich habe hier keine Lust mehr drauf«, sagte er.
    Wir sahen ihn alle drei an. Er hatte die Serviette vom Schoß genommen und sie auf den Tisch gelegt. Ich sah, dass das Eis der Dame blanche zu schmelzen anfing, ein Vanillerinnsal war über den Rand hinuntergeflossen und hatte den Fuß des Glasbechers erreicht. »Ich verschwinde mal kurz«, sagte er. »Raus an die Luft.«
    Er ging einen Schritt zur Seite, von unserem Tisch weg, und kam dann wieder zurück. »Es tut mir leid«, sagte er, während er sich zunächst Claire und dann mir zuwandte. »Es tut mir leid, dass es so läuft. Ich hoffe, dass wir uns gleich, wenn ich wieder da bin, in Ruhe über die Dinge unterhalten können, über die wir uns unterhalten müssen.«
    Eigentlich hatte ich erwartet, Babette würde erneut losbrüllen und ihm etwas an den Kopf werfen, wie: »Ja, geh du nur! Geh doch! Das ist schön bequem!« Aber sie sagte nichts – wasich ehrlich gesagt ein wenig bedauerte. Es hätte den Skandal abgerundet: Ein berühmter Politiker, der mit gesenktem Kopf ein Restaurant verlässt und dem seine Frau noch hinterherruft, er sei ein Arsch oder Feigling. Auch wenn das nie bis in die Gazetten vordringen würde, würde sich die Geschichte dennoch wie ein Lauffeuer verbreiten, von Mund zu Mund, Dutzende, Hunderte, wer weiß, vielleicht Tausende potenzielle Wähler würden erfahren, dass der Politiker Serge Lohman, der Mann wie du und ich, auch ganz normale Eheprobleme hat. Wie alle anderen auch. Wie auch wir.
    Fraglich ist aber, ob die Geschichte seines Ehestreits ihn Stimmen kosten oder ihm vielleicht sogar neue bescheren würde. Vielleicht machte ihn ein Ehestreit menschlicher, vielleicht würde eine unglückliche Ehe ihn seinen Wählern noch näherbringen. Ich schaute zur Dame blanche. Ein zweites Eisrinnsal war über den Fuß des Glasbechers gelaufen und hatte das Tischtuch erreicht.
    »Der Klimawandel«, sagte ich und deutete auf das Dessert meines Bruders; ich hatte das Gefühl, es sei das Beste, jetzt irgendeinen Kalauer loszulassen. »Seht ihr, das ist nicht nur Panikmache. Es stimmt tatsächlich.«
    »Paul …«
    Claire sah mich an und verdrehte die Augen in Babettes Richtung – Babette heulte, sah ich nun, als ich dem Blick meiner Frau folgte. Anfangs war ihr Weinen noch geräuschlos, nur ihre Schultern zuckten leicht, doch schon bald erklangen die ersten Schluchzer.
    An einigen Tischen hatten die Leute erneut aufgehört zu essen. Ein Mann mit einem roten Hemd hatte sich zu einer älteren Dame gebeugt (seine Mutter?), die ihm gegenübersaß, und flüsterte etwas in der Art wie: Nicht gleich hinschauen, aber die Frau da heult – so etwas Ähnliches sagte er ganz bestimmt – die Frau von Serge Lohman …
    Serge war noch immer nicht gegangen; er stand da, dieHände auf die Rücklehne des Stuhls gestützt, unschlüssig, als wisse er nicht, ob er seinen Worten noch immer Taten folgen lassen musste, jetzt, da seine Frau weinte.
    »Serge«, sagte Claire, ohne ihn anzuschauen – ohne auch nur den Kopf zu heben, »setz dich.«
    »Paul.« Claire hatte meine Hand genommen; sie zog daran, und es brauchte einen Moment, bevor ich verstand, was sie damit meinte: Ich sollte aufstehen, damit sie sich neben Babette setzen konnte.
    Wir erhoben uns gleichzeitig. Während wir uns aneinander vorbeischoben, griff Claire erneut nach meiner Hand; ihre Finger schlossen sich fest um mein Handgelenk und drückten es kurz. Unsere Gesichter waren keine zehn Zentimeter voneinander entfernt, ich bin nicht viel größer als meine Frau, ich hätte mich nur vorbeugen müssen, um meinen Kopf in ihrem Haar zu verbergen – etwas, wonach ich mich in diesem Moment unbändig sehnte.
    »Wir haben ein Problem«, sagte Claire.
    Ich sagte nichts, ich nickte nur kurz.
    »Mit deinem Bruder«, sagte Claire.
    Ich wartete, ob sie noch mehr sagen würde, doch offenbar fand sie, dass wir schon zu lange neben dem Tisch standen; sie zwängte sich am Tisch vorbei und ließ sich auf dem Stuhl neben der weinenden Babette nieder.
    »Ist hier alles nach Wunsch?«
    Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht des Mannes mit dem weißen Rollkragenpullover. Tonio! Weil Serge seinen Stuhl zurückgeschoben und sich wieder hingesetzt hatte und ich noch stand, hatte er wahrscheinlich insbesondere mich angesprochen. Egal wie,

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