Angerichtet
hat es ganz Holland gesehen. Nenne es meinetwegen nicht Mord, sondern Totschlag. Was du nicht verleugnen kannst, ist, dass die Frau sich vollkommen passiv verhält. Die Frau bekommt eine Lampe, einen Stuhl und schließlich einen Kanister an den Kopf geworfen. Und sie tut ihnen nichts.«
»Was hat sie dort in dem Geldautomatenhäuschen zu suchen?«
»Das spielt doch keine Rolle. Obdachlose gibt es überall. Leider. Sie schlafen dort, wo es ein bisschen warm ist. Wo sie im Trockenen liegen.«
»Aber sie lag im Weg, Serge. Ich meine, sie hätte auch bei euch im Hauseingang liegen können. Dort ist es bestimmt auch trocken und warm.«
»Wir sollten versuchen, uns jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren«, sagte Babette. »Ich glaube wirklich nicht –«
»Das hier ist das Wesentliche, Schätzchen.« Claire hatte eine Hand auf Babettes Unterarm gelegt. »Sei mir bitte nicht böse, aber wenn ich Serge so reden höre, dann klingt das gerade so, als hätten wir es mit einem armen, bemitleidenswerten Vögelchen zu tun, einem Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist. Hier geht es aber um eine erwachsene Person. Eine erwachsene Frau, die sich mit vollem Bewusstsein in ein Geldautomatenhäuschen legt. Versteh mich da bitte richtig: Ich versuche nur, mich da hineinzuversetzen. Nicht in die obdachlose Frau, sondern in Michel und Rick. In unsere Söhne. Sie sind nicht betrunken, sie stehen nicht unter Drogen. Sie wollen Geld ziehen. Aber beim Geldautomaten liegt eine stinkende Person. Dann reagiert man doch spontan mit einem ›Verdammt, verpiss dich‹?«
»Sie hätten doch zum Geldabheben irgendwo anders hingehen können?«
»Irgendwo anders?« Claire fing an zu lachen. »Irgendwo anders? Ja, na klar. Man kann immer und überall einen Bogen drum herum machen. Ich meine, was würdest du denn tun, Serge. Du öffnest die Haustür, und du musst über eine schlafende Obdachlose steigen, um hinauszugehen. Was machst du dann? Gehst du dann wieder zurück ins Haus? Oder es pinkelt jemand an eure Haustür. Machst du die Tür dann wieder zu? Ziehst du dann weg?«
»Claire …«, sagte Babette.
»Okay, okay«, sagte Serge. »Ich verstehe schon, was du meinst. Das wollte ich damit auch gar nicht sagen. Natürlich müssen wir nicht vor Problemen oder schwierigen Situationen davonlaufen. Aber man kann, man muss nach einer Lösung für diese Probleme suchen. Eine Obdachlose …« – hier zögerte er – »ihres Lebens zu berauben, ist keine Lösung.«
»Meine Güte, Serge!«, sagte Claire. »Ich rede hier nicht überdie Lösung des Obdachlosenproblems. Ich rede hier von einer ganz bestimmten Obdachlosen. Und ich finde, wir sollten nicht so viel über diese Obdachlose, sondern eher über Rick und Michel reden. Ich will das Geschehene nicht abstreiten. Ich will nicht behaupten, ich würde das alles nicht schlimm finden. Aber wir sollten es doch immer noch aus der richtigen Perspektive betrachten. Es ist ein Vorfall. Ein Vorfall mit vielleicht großen Folgen fürs weitere Leben, für die Zukunft unserer Kinder.«
Serge stieß einen Seufzer aus und platzierte die Hände zu beiden Seiten seines Desserts. Ich bemerkte, wie er Blickkontakt zu Babette suchte, aber sie hatte ihre Tasche auf dem Schoß und wühlte darin, als ob sie dringend etwas suche.
»Genau«, sagte er. »Die Zukunft. Darüber wollte ich auch sprechen. Versteh mich bitte richtig, Claire, ich bin genauso mit der Zukunft unserer Jungen beschäftigt wie du. Nur glaube ich nicht, dass sie damit leben können, mit einem solchen Geheimnis. Auf Dauer werden sie daran zerbrechen. Jedenfalls zerbricht Rick bereits jetzt daran« – er stieß einen Seufzer aus –, »ich zerbreche daran.«
Nicht zum ersten Mal beschlich mich das Gefühl, bei etwas anwesend zu sein, das nur nebenbei mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Jedenfalls mit unserer Wirklichkeit, der Wirklichkeit zweier Ehepaare – zweier Brüder und ihren Frauen –, die sich gemeinsam zum Essen getroffen hatten, um die Probleme ihrer Kinder zu besprechen.
»Mein Entschluss ist an die Zukunft meines Sohnes gekoppelt«, sagte Serge. »Später, wenn wir alles hinter uns haben, muss er mit seinem Leben weitermachen. Ich möchte betonen, dass ich diese Entscheidung vollkommen allein getroffen habe. Meine Frau … Babette …« Babette hatte eine Schachtel Marlboro light aus der Tasche gefischt, eine noch unangebrochene Schachtel, von der sie jetzt das durchsichtige Cellophan abriss. »Babette ist nicht meiner Meinung.
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