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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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öfter hierher, wir haben nie –«
    »Ah, davor hast du Angst?«, unterbrach Babette ihn. »Dass du beim nächsten Mal plötzlich keinen Tisch mehr bekommst?«
    Serge sah zu mir, aber ich wich seinem Blick rasch aus. Inwieweit konnte mein Bruder bei Erblichkeit mitreden? Tja, bei seinen eigenen Kindern ging das ja noch: sein eigen Fleisch und Blut. Aber wie war das bei Beau? Inwieweit musste man zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeben, dass offenbar etwas von jemand anderem geerbt war? Von den in Afrika zurückgebliebenen leiblichen Eltern? Und umgekehrt: Inwieweit konnte sich Serge von den Taten seines adoptierten Sohns distanzieren?
    »Ich habe vor nichts Angst«, sagte Serge. »Mir ist es nur zuwider, wenn du jemanden derart barsch anfährst. Solche Leute wollten wir doch nie sein. Der Mann erledigt einfach nur seinen Job.«
    »Wer hat denn mit dem barschen Ton angefangen?«, sagte Babette. »Na, wer hat angefangen?« Ihre Stimme war lauter geworden. Ich blickte mich um; an den Nachbartischen drehten sich bereits Köpfe in unsere Richtung. Das war natürlich besonders interessant, eine Frau, die ihre Stimme erhob, am Tisch unseres zukünftigen Ministerpräsidenten.
    Serge schien sich ebenfalls der drohenden Gefahr bewusst zu werden. Er beugte sich über den Tisch. »Babette, bitte«, sagte er leise. »Wir sollten es jetzt dabei belassen. Lass uns das ein andermal ausdiskutieren.«
    Bei jedem Familienkrach – und auch bei Kämpfen und Kriegen – gibt es irgendwann einen Moment, an dem beide oder eine der beiden Parteien einen Schritt zurückmachen können, damit die Situation nicht eskaliert. Das hier war der Moment. Kurz überlegte ich, wie es mir selbst eigentlich amliebsten wäre. Als Familienmitglieder und Tischgenossen war es die uns zugewiesene Rolle, schlichtend einzugreifen, beschwichtigende Worte zu sprechen, damit sich beide Parteien wieder einander annähern konnten.
    Aber hatte ich, wenn ich ehrlich war, wirklich Lust dazu? Hatten wir Lust dazu? Ich sah zu Claire rüber und im selben Augenblick schaute Claire mir in die Augen. Um ihren Mund spielte etwas, das für Außenstehende nicht als Lächeln zu erkennen gewesen wäre, das aber dennoch ein Lächeln war. Es äußerte sich in einem mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbaren Zucken in der Nähe der Mundwinkel. Ich kannte dieses unsichtbare Zucken wie sonst niemand. Und ich wusste, was es zu bedeuten hatte: Auch Claire verspürte keinerlei Verlangen, sich einzumischen. Genauso wenig wie ich. Wir würden nichts unternehmen, um die beiden streitenden Parteien zu trennen. Im Gegenteil, wir würden alles tun, damit es richtig knallte. Weil uns das im Moment am ehesten passte.
    Ich zwinkerte meiner Frau zu. Und sie zwinkerte zurück.
    »Babette, bitte …« – es war nicht Serge, der das sagte, sondern Babette selbst. Sie imitierte ihn mit einem übertrieben gezierten Ton, als sei er ein quengelndes Kind, das ein Eis haben wollte. Er sollte auch lieber nicht so herumquengeln, überlegte ich und betrachtete seine Dame blanche, die vor seiner Nase stand. Er hat sein Eis bereits. Ich hätte fast auflachen müssen, Claire musste es mir angesehen haben, denn sie schüttelte den Kopf und zwinkerte mir dabei erneut zu. Jetzt nicht lachen!, sagte ihr Blick. Das verdirbt sonst alles. Dann werden wir zu Blitzableitern und der Krach zieht vorüber.
    »Du bist einfach ein Feigling!«, schrie Babette. »Du solltest dich für mich einsetzen, anstatt an dein Image zu denken und wie es bei anderen Leuten ankommt, wenn deine Frau das Dessert unbeschreiblich eklig findet. Was wird dein Freund wohl dazu sagen. Tonio! Ton oder Anton ist ihm offenbarzu normal! Das klingt sicherlich zu stark nach Blumenkohl und Erbsensuppe.« Sie warf ihre Serviette auf den Tisch – zu heftig, denn sie berührte das Weinglas, und es kippte um. »Ich will hier nie wieder essen!«, sagte Babette. Sie hatte zu schreien aufgehört, aber ihre Stimme war bestimmt noch immer vier Tische weiter zu hören. Viele hatten das Besteck sinken lassen. Inzwischen sahen sie schon unverhohlener in unsere Richtung. Weggucken war auch nicht wirklich möglich. »Ich will nach Hause«, sagte Babette, jetzt um einiges leiser, schon fast wieder in normaler Lautstärke.
    »Babette«, sagte Claire und streckte eine Hand nach ihr aus. »Liebling …«
    Claires Timing war perfekt. Ich grinste – aus Bewunderung für meine Frau. Rotwein hatte sich auf dem Tisch ausgebreitet, der größte Anteil war in Serges Richtung

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