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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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es lag bestimmt nicht nur an dem Größenunterschied – er war einen Kopf kleiner als ich –, dass ich an seiner Körperhaltung etwas Lakaienhaftes abzulesen meinte: wie er da stand, leicht gebeugt, die Hände aufeinandergelegt, den Kopf ein wenig gedreht, mit dem Effekt, dassmich seine Augen von schräg unten anblickten: länger als unbedingt nötig.
    »Ich hörte, es gab Probleme mit der Wahl eines Desserts«, sagte er. »Wir würden Ihnen gerne ein anderes Dessert nach freier Wahl anbieten.«
    »Auch vom Hause?«, fragte ich.
    »Pardon?«
    Der Restaurantbesitzer war so gut wie kahl, die übrig gebliebenen Härchen über den Ohren waren mit Sorgfalt gestutzt, sein etwas zu brauner Kopf ragte aus dem weißen Rollkragenpullover heraus wie der Kopf einer Schildkröte aus dem Panzer.
    Mir war zuvor schon aufgefallen, als Serge und Babette das Restaurant betreten hatten, dass er mich an jemanden oder etwas erinnerte, und jetzt wusste ich es plötzlich. Vor Jahren wohnte bei uns ein paar Häuser weiter ein Mann mit ähnlich untertänigem Gehabe. Er war vielleicht sogar noch kleiner als »Tonio«, und er hatte keine Frau. Eines Abends kam Michel, der damals vielleicht acht war, mit einem Stapel Schallplatten nach Hause und fragte, ob wir noch irgendwo einen Schallplattenspieler hätten.
    »Wo hast du denn die Platten her?«, fragte ich.
    »Von Herrn Breedveld«, sagte Michel. »Mensch du, der hat bestimmt fünfhundert! Und die hier durfte ich behalten.«
    Es dauerte etwas, bis ich das Gesicht des kleinen, alleinstehenden Mannes ein paar Häuser weiter mit dem Namen »Breedveld« in Verbindung brachte. Sie würden öfter zu ihm gehen, erzählte Michel, mehrere Jungs aus der Nachbarschaft, um sich alte Platten bei Herrn Breedveld anzuhören.
    Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Schläfen plötzlich zu pochen anfingen, anfangs noch aus Angst, danach vor Wut. Während ich versuchte, meine Stimme möglichst normal klingen zu lassen, fragte ich Michel, was Herr Breedveld machte, während sich die Jungs Platten anhörten.
    »Einfach so. Wir sitzen auf dem Sofa. Er hat immer Erdnüsse, Chips und Cola.«
    Am Abend, als es bereits dunkel war, klingelte ich bei Herrn Breedveld. Ich bat nicht erst, hereinkommen zu dürfen, sondern schob ihn beiseite und ging gleich weiter durch ins Wohnzimmer. Ich stellte fest, dass die Vorhänge bereits zugezogen waren.
    Ein paar Wochen darauf ist Herr Breedveld umgezogen. Das letzte Bild, an das ich mich noch erinnern kann, sind die Jungen, die in den Kartons mit zerbrochenen Schallplatten herumschnüffelten, ob sich darunter vielleicht noch eine unversehrte befand. Die Kartons hatte Herr Breedveld einen Tag vor seinem Umzug an die Straße gestellt.
    Ich sah zu »Tonio« und hielt mich mit einer Hand an der Stuhllehne fest.
    »Verzieh dich, du Dreckskerl!«, sagte ich. »Verzieh dich, sonst verliere ich hier gleich noch richtig die Beherrschung.«

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    37
    Serge räusperte sich, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, zu beiden Seiten der Dame blanche, und führte die Fingerspitzen aneinander.
    »Inzwischen wissen wir alle, was passiert ist«, sagte er. »Die Tatsachen sind uns allen vieren bekannt.« Er schaute zu Claire, dann zu Babette, die aufgehört hatte zu weinen, sich aber immer noch einen Zipfel der Serviette an die Wange drückte – knapp unters Auge, hinter das Glas der dunklen Brille. »Paul?«
    Er drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich an; sein Blick sah besorgt aus, doch ich hatte meine Zweifel, ob es sich um die Besorgnis des Menschen oder des Politikers Serge Lohman handelte.
    »Ja bitte?«, sagte ich.
    »Ich nehme an, dass auch du über alle Tatsachen informiert bist?«
    Alle Tatsachen. Ich konnte mir kaum ein Grinsen verkneifen; dann sah ich zu Claire und bemühte mich ernst zu bleiben. »Natürlich«, sagte ich. »Es hängt allerdings davon ab, was du unter Tatsachen verstehst.«
    »Darauf komme ich gleich noch zurück. Es geht darum, wie wir mit dieser Angelegenheit umgehen. Wie wir damit an die Öffentlichkeit gehen.«
    Ich dachte erst, ich hätte mich vielleicht verhört. Ich sahwieder zu Claire rüber. Wir haben ein Problem, hatte sie gesagt. Das ist das Problem, sagte jetzt ihr Blick.
    »Augenblick mal«, warf ich ein.
    »Paul.« Serge legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Lass mich kurz meine Position darlegen. Du darfst dann gleich.«
    Babette machte ein Geräusch: eine Mischung aus einem Seufzer und einem Schluchzer. »Babette«, mahnte

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