Angor - Schatten der Vergangenheit (Kriminalroman)
gewaltigen Kronleuchter an der Decke seines Schlafzimmers und versuchte die Lichtreflexe der vielen bleikristallenen Prismen zuzuordnen. Es gelang ihm nicht, er konnte seine Konzentration nicht fokussieren. Bewegte sich das geschliffene Glas? Oder bildete er sich das nur ein? Urplötzlich erschien wieder das Gesicht seines Peinigers, das sich ständig in seine Gedanken projizierte.
„Verschwinde!“
Er wollte sich mit derart Banalem ablenken, aber es gelang ihm einfach nicht. Das Erlebte und Gehörte nahm ihn gefangen, sodass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sein Verstand versagte ihm einen Ausweg aus dem derzeitigen Dilemma. Raven wollte in kein Krankenhaus eingeliefert werden, um seine Wunden behandeln zu lassen. Es wurde nicht die Polizei verständigt, alle mussten Stillschweigen bewahren. Der Hausarzt der Familie Blackstone verrichtete sein Bestes, der Heilungsprozess setzte erfolgreich ein. Das erlittene Martyrium lag nunmehr vier Tage zurück. Sein körperliches Leid verspürte er auch so gut wie gar nicht mehr. Aber die Psyche des Menschen ist nun mal eine zarte Pflanze.
Auch ein gestandener Mann von fast einem Meter neunzig Größe streift traumatische Erlebnisse nicht einfach so ab. Am eigenen Leib ausgestandene Todesangst und diese sonderbare Erniedrigung, solche Umstände waren für Raven bis vor Kurzem unvorstellbar. In seinen dreiundvierzig Lebensjahren war er nur als Jugendlicher des Öfteren körperlicher Gewalt ausgesetzt. Schmerz war ihm also nicht fremd, diese pubertären Rangeleien waren aber schon in weite Ferne gerückt. Das vor Kurzem Erlebte beherrschte seine Gegenwart.
Es schlummerte wie ein schmerzender Nebel in seinem Kopf. Die Tür wurde leise und übervorsichtig geöffnet. Raven bekam es gar nicht mit.
Elise, seine Ehefrau, betrat mit einem Tablett voller duftender Brötchen, Kaffee und anderen Leckereien das wundervoll arrangierte Schlafzimmer.
»Hallo mein Liebling, ich hoffe wenigstens, dass dein Appetit zurückgekehrt ist ?«
Raven reagierte nicht. Sie stellte alles auf einen kleinen Beistelltisch und setzte sich auf die Bettkante zu seiner linken Seite. Elise liebte sein seitliches Profil. Sie hätte in das für sie - männlich sinnlichste Gesicht der Welt - versinken können.
Liebevoll streichelte sie seine Wange, nun drehte er sich zu ihr und schaute sie fast durchdringend an. Leise sprach er zu ihr:
»Ich bekomme diese Teufelsfratze einfach nicht aus meinem Kopf!«
Solch eine zerbrechliche Seite zeigte ihr liebevoller, sonst so selbstsicher und souverän auftretender Mann noch nie. Elise kullerten Tränen über die Wangen, sie litt mit ihm.
»Nolan ist …«. Leicht aggressiv würgte er ihren Satz ab.
»Ich möchte erst einmal niemanden hören und sehen. Außer Dr. Fitch und dir kommt derzeit niemand hier herein. Ich benötige Zeit und muss nachdenken.«
Leise, tippelnde Gehgeräusche auf dem flauschigen roten Teppichboden, kündigten Besuch an.
»Hallo Raven.«
»Nolan!« Raven Blackstone blickte seinen Schwager und besten Freund überrascht ins Gesicht und schämte sich sogleich.
Elise bewegte sich vom Bett weg.
»Ich lasse euch dann mal allein.«
Beim Verlassen des Raumes ging sie an Nolan vorbei und drückte seinen Arm. Er lächelte sie zuversichtlich an. Die Begrüßung war nicht wie sonst, diese angespannte Atmosphäre behagte niemandem.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, sorry.« »Raven, du musst dich für nichts entschuldigen. Deine Nerven sind mehr als angespannt. Kein Wunder nach alldem.«
Nolans Stimme versagte, er musste sich erst einmal sammeln. Raven sah älter und nicht so attraktiv wie sonst aus. Es tat ihm weh, seinen Schwager so angeschlagen zu sehen.
Ein Schatten seiner selbst.
»Dunkle Mächte sind am Werk, jemand will dich zerbrechen oder der Brauerei Schaden zufügen. Aber wir werden es zu verhindern wissen.
Er wird zur Verantwortung gezogen, du musst jetzt besonders stark sein .«
Raven schob die schneeweiße Bettdecke beiseite und knöpfte zitternd das Oberteil seines blaugestreiften Pyjamas auf. Er zog die Jacke aus und streckte die Arme nach oben. Nolan zuckte regelrecht zusammen.
»Gütiger Gott«, entfuhr es ihm.
Unter Ravens Achseln, den Brustwarzen, an den Hüften bis zum Unterbauch zeigten sich kleine Schnittverletzungen, auf denen sich schon Wundschorf gebildet hatte.
»Das geht bis zu den Zehen so weiter, ich wurde in meinem ganzen Leben noch nie so gedemütigt. Ich kann es einfach nicht begreifen.
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