Angriff der Killerkekse. Unglaubliche Reportagen und atemlose Geschichten (German Edition)
Flüsterpropaganda ist durchschlagend. Im alles entscheidenden nächsten Morgengrauen belagert ein Heer hungriger Hausfrauen schon vor dem ersten Hahnenschrei das Handelshaus. Gestiefelt und gespornt gieren sie dem Geschehnis entgegen. Gleich nach dem Öffnen der gläsernen Eingangsportale bricht der Teufel los. Die Kohorte entert den Laden.
Am Wühltisch wirbelt kaum einen Atemzug später der Wahnsinn. Denn es gibt wirklich auf alles fünfzig Prozent Rabatt. Und zwar für jeden, der davon weiß. Nach dem Ausweis »nur für Mitarbeiter« fragt keiner. Wer es weiterhin nicht glauben will, fragt die nächste Kundin, die wiederum sichert sich bei einer Dritten ab, und schließlich werden die Kassiererinnen interviewt. Madonna, es stimmt, heute gibt es wirklich alles zum halben Preis!
Frauen aus verschiedenen Ländern und Kulturräumen kämpfen verbissen um Einzelstücke, als gelte es, Nahrung für die vom Verhungern bedrohte Brut zu beschaffen. Eine Einheitsfront der Weltkulturen wühlt bei Wulle: Aysche, Suleika und Naval streiten neben Kirsten, Maren und Nicole. Lynn, Pia und Esther bilden eine Linie mit Alex, Gayle und Jewgena, die wiederum von hinten bestürmt werden von Stefanie, Zdenka, Fiona, Aña, Sakine und Desideria. Im Hintergrund lauern mit irrem Blick Gudrun, Irmgard und Annemarie.
Es wird gerafft, was in die Hände fällt. Zuerst sichern, später prüfen, probieren und entscheiden, lautet die Devise erfahrener Käuferinnen. Getauscht werden kann immer noch. So ähnlich muss es aussehen, wenn feindliche Truppen in lange belagerte Festungen marodierend eindringen und gierig alles greifen, was nicht niet- und nagelfest ist. Der Haufen ist bunt und spricht in vielen Zungen.
Babyspeckige Diskoteenager mit Lippenringen und Bauchschmuck wühlen neben in gewobene Tücher völlig verhüllten türkischen Muttis. Resolute weißhaarige Seniorinnen grapschen nach Fundstücken, die sich unter dicken Creme- und Puderschichten verborgene Mitvierzigerinnen zu sichern suchen. Schwitzend zieht ein Heimchen im Jogginganzug an einem Ärmel, der ihr beim Wühlen in die Finger fällt und schließt dabei Bekanntschaft mit einer kräftigen, kraushaarigen Afrikanerin, die erbittert am anderen Ende der Beute zerrt.
Vor einem gefährlich schaukelnden Kosmetikregal presst eine Drohne in Strick mehrere farbenfrohe Kleidungsstücke sowie eine Kollektion Lippenstifte und Cremes an ihre ausladende Brustwehr. Zu allem bereit verteidigt sie die auserwählte Ware mit dem Körper. Sie wankt wie ein Mast, wird im Wind der Wirbelnden geknufft und geschubst und vermag es kaum, sich und ihren Schatz zu halten.
Eifrig rollen Wulles Mitarbeiter weitere Container und Kleiderständer mit neuer Ware in den Verkaufsraum. Sie werden schon auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort von wilden Wölfinnen angefallen. Wer zuerst greift, der mahlt zuerst. In der Schlacht der Matronen um das jeweils beste Schnäppchen fallen Kleidungsstücke zu Boden und werden mit Füßen getreten. Wozu aufheben? Zeit ist Geld. T-Shirts, Pullover und Jacken werden von der Kavalkade der Stöberer überrollt, springt nicht eine Verkäuferin mutig dazwischen und stellt die Ordnung wieder her.
Besonders routinierte Käuferinnen verfügen über ein magisches drittes Auge. Das hat ihnen die Evolution verpasst. Während sie die Auslagen prüfen, schweift ihre innere Kamera über die Spiegelflächen, die in jedem Warenhaus die Wände zieren. Streift dann eine andere Kundin ein besonders schickes rotes, pink- oder orangefarbenes Teil über, schlagen die Sensoren des zusätzlichen Auges Alarm.
Wie ein Warenhausdetektiv, der am Monitor wacht, um Langfinger zu fassen, elektrisiert ein Reflex die Betrachterin: »Das sieht angezogen aber toll aus!« Sie schaut der Rivalin nach. Hängt sie das gute Stück zurück an den nächsten Kleiderhaken und gibt es vielleicht auf? Blitzschnell ist das magische Auge vor Ort und leitet seine Trägerin. Mit geschicktem, wie zufällig wirkenden Griff versenkt sie das Teil im eigenen Warenkorb.
Es mag vorkommen, dass der einen das Kleidungsstück, für das sie sich gerade erst entschieden hat, von der anderen aus dem Einkaufswagen gezaubert wird, sobald sie sich am nächsten Kleiderständer vergisst und versunken darin gräbt. Schließlich lebt jeder von Anregungen, und der wahre Wert von Klamotten springt oft erst ins Auge, wenn sie getragen werden. Wie notierte mein Nachbar, der sich im freiwilligen Selbstversuch
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