ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
sah, warum verbrachte er dann so viel Zeit mit ihr?
Dann gab sie Will die Schuld. War er schwul? Aber das schien nicht der Fall zu sein. Soweit sie das beurteilen konnte, hatte er keine männlichen Freunde. Er hatte gar keine anderen Freunde als Lisl.
War er asexuell? Vielleicht.
Da waren so viele Vielleicht. Aber eines war sicher: Will Ryerson war der netteste, freundlichste, tiefsinnigste, seltsamste Mann, den sie je getroffen hatte. Und trotz all seiner Schrullen – und davon hatte er eine Menge – wollte sie ihn näher kennenlernen.
Während dieser zwei Jahre hatte Will allmählich die Rolle eines Lehrers und Mentors angenommen, der Minivorlesungen auf diesem Hügel abhielt und sie ganz allmählich durch die Terra incognita der Philosophie und Literatur geleitete. Er war ein guter Lehrmeister. Er verlangte nichts von ihr. Er war immer für sie da, um Ratschläge zu geben, wenn sie darum bat, oder sich einfach nur ihre Ideen und Probleme anzuhören. Und immer, um ihr Mut zu machen. Sein Vertrauen in ihre Fähigkeiten reichte viel weiter als ihr eigenes. Wo Lisl Grenzen sah, sah Will endlose Möglichkeiten.
Lisl gefiel sich in dem Gedanken, dass ihre Beziehung nicht nur eine Einbahnstraße war, dass sie ihm auch etwas zurückgab. Sie war sich nicht sicher, wie oder warum, aber sie hatte das Gefühl, dass Will von dem Umgang mit ihr fast so sehr profitierte wie sie von ihm. Er schien viel mehr mit sich und der Welt im Reinen, seit sie sich kennengelernt hatten. Damals war er ein trübsinniger, schwermütiger, fast gequälter Mann gewesen. Jetzt konnte er Witze machen und sogar lachen. Sie hoffte, dass das zumindest teilweise ihr zu verdanken war.
»Tu es einfach«, sagte Will.
»Ich weiß nicht recht. Was wird Everett denken?«
»Er wird denken, du versuchst, eine Festanstellung an der Fakultät zu bekommen, genau wie er auch. Daran ist nichts auszusetzen. Warum, um Gottes willen, solltest du für ihn zurückstehen? Ihr habt beide im gleichen Jahr hier angefangen. Du bist zwar jünger, aber genauso lange dabei wie er, und du kannst ihm, was das Fachwissen angeht, auf jeden Fall das Wasser reichen, wenn du nicht sogar besser bist. Und außerdem siehst du einfach verdammt viel besser aus.«
Lisl spürte, dass sie rot wurde. »Hör auf damit. Das ist unerheblich.«
»Natürlich. So wie diese Ausflüchte, die du benutzt, um dich davor zu drücken. Tu es einfach, Lise.«
So war ihr Will: Er war vollkommen davon überzeugt, dass sie jedes Ziel erreichen konnte, das sie sich setzte. Lisl wünschte nur, sie würde seine Begeisterung in Bezug auf ihre Fähigkeiten teilen. Aber er kannte ja die Wahrheit nicht.
Sie war eine Mogelpackung.
Sicher, sie hatte ihre Doktorarbeit geschafft und es war ihr gelungen, als erste Frau in die traditionell Männern vorbehaltene Mathematikfakultät von Darnell aufgenommen zu werden, aber Lisl war sich sicher, dass die Besetzungskommission sich nur durch einen Glücksfall für sie entschieden hatte, dass man sie aufgrund irgendeiner Quotenregelung hatte akzeptieren müssen. So gut war sie gar nicht. Bestimmt nicht.
Und jetzt drängte Will sie dazu, in der Fakultät aufzusteigen. Der Internationale Mathematikerkongress fand im nächsten Frühjahr in Palo Alto statt. Ev Sanders bereitete einen Vortrag vor, den er dort halten wollte. Wenn die Präsentation akzeptiert wurde, war das ein Ruhmesblatt für die Fakultät und er hatte mehr als nur einen Fuß in der Tür bei der nächsten Festanstellung. Die zu bekommen wurde immer schwieriger. In den letzten Jahren waren in Darnell immer mehr unbefristete Stellen gestrichen worden. Und jetzt, wo es zum »neuen Harvard des Südens« erklärt worden war, würde die Konkurrenz um die paar verbliebenen Stellen wahrscheinlich noch größer werden. Aber John Manning hatte seinen Lehrstuhl im letzten Monat aufgegeben, um einem Ruf zur Duke Universität zu folgen, und damit war jetzt in der mathematischen Fakultät eine Stelle frei. Wenn Lisls Arbeit ebenfalls akzeptiert wurde, ging diese Stelle nicht mehr automatisch an Everett. Und falls Lisls Arbeit akzeptiert wurde, Everetts aber nicht …
»Du meinst wirklich, ich sollte das tun?«
»Nein. Ich höre mich nur einfach gern selbst reden. Tu es, verdammt noch mal!«
»Na gut. Ich werde es tun!«
»Na also. Siehst du? War das so schwierig?«
»Du hast leicht reden. Du musst ja auch keine Abhandlung abliefern.«
»Du kriegst das schon hin.«
»Sicher doch. Kann ich dich anrufen, wenn ich
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