Angst (German Edition)
Später hatte er viel Streit mit seinen Eltern, weil die ihn dazu drängten, das Lokal zu übernehmen, aber das wollte er auf keinen Fall. So wie er Waffen liebte, liebte er auch Autos und wurde deshalb nach dem verpassten Abitur Automechaniker. Ingenieur wäre ihm lieber gewesen. Bei der Bundeswehr war mein Vater nicht, weißer Jahrgang. Sind das Hinweise, die ein eigentümliches Leben erklären können? Wenn mein Vater aus dem Gefängnis herauskommt, werde ich ihn eine Menge fragen.
Als wir nach meiner Rückkehr von Bali zu Hause eintrafen, lag ein praller Brief auf dem Fenstersims im Hausflur. Für Rebecca Tiefenthaler, stand auf dem Umschlag, hinten: Dieter Tiberius. Von wem ist der Brief, fragte Paul. Von einem Bekannten, sagte meine Frau munter. Wir haben da begonnen, uns zu verstellen, das heißt, meine Frau hatte sicherlich schon damit begonnen, während ich noch auf Bali und im Flugzeug war. Wir sind keine düsteren Eltern, wir sind meistens munter, wenn nicht fröhlich in Gegenwart unserer Kinder. Wir blieben so, auch als wir bedroht wurden von Herrn Tiberius, aber da war es nur noch gespielt. Das war die erste einschneidende Veränderung unseres Lebens durch Herrn Tiberius: Wir begannen, unser Leben zu spielen, es wurde zu einer Aufführung für unsere Kinder.
Ich war als Erster an unserer Wohnungstür, schloss auf und ging durch alle Zimmer wie auf Patrouille. Es war wie immer, es war ein freundlicher Tag, viel Sonne in den Zimmern. Meine Frau schloss sich in der Toilette ein, ich wusste, dass sie den Brief dort lesen würde. Ich ging in die Küche und machte Frühstück für die Kinder, denen ich dabei von Bali erzählte, dem Meer, dem Surfen. Stellt euch vor, Papi auf dem Surfbrett, sagte ich, meine Kehle zugeschnürt dabei. Sie lachten. Meine Frau kam zurück, fahl im Gesicht, den Brief hatte sie irgendwo abgelegt, die Kinder sollten nicht daran erinnert werden. Papi hat gesurft, sagte Fee. Das sah bestimmt lustig aus, sagte meine Frau. Superlustig, sagte Paul. Papi war früher Weltmeister im Surfen, sagte ich. Toll, sagte Fee. Gar nicht wahr, krähte Paul. Ich konnte nicht anders, als zu denken: Dialog zwischen den Eltern, die beschuldigt werden, ihre Kinder sexuell zu missbrauchen, und diesen Kindern. Das Schlimme war, dass Paul und Fee jetzt störten. Ich wollte wissen, was in diesem Brief stand, ich musste das wissen, aber wir konnten nicht darüber reden, solange sie da waren. Macht euch fertig, sagte ich und stand auf. Zähneputzen, Jacken anziehen. Ich ging ins Souterrain, vorbei an der Tür von Herrn Tiberius, die Ohren gespitzt, nichts, kein Laut. Ich trat die Tür ein und stürzte mich auf ihn, den Schlafenden, aber das nur in Gedanken. Mein Fahrrad aus der Garage schieben, Pauls Fahrrad aus der Garage schieben, automatisch, gleichsam mit fremder Hand. Meine Frau kam mit den Kindern nach hinten, sie war außenrum gegangen, nicht durch das Souterrain. Den Kindern die Helme aufsetzen, Fee in den Kindersitz heben, ein Kuss für meine Frau, willst du nicht doch mitkommen? Nein, ist schon in Ordnung, sagte sie und küsste die Kinder. Wir fuhren zum Kinderladen, ich gab die Kinder ab, hetzte zurück. Meine Frau saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und telefonierte mit ihrer Mutter, der Brief lag neben ihr.
Ich lese dir vor, was er geschrieben hat, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. Nicht hier, sagte ich, lass uns in die Küche gehen. Die Wohnung im Souterrain liegt unter unserem Wohnzimmer, unter der Küche ist die Waschküche. Wir konnten Dustin Hoffmans Stimme hören, wenn wir im Wohnzimmer waren, also konnte uns Herr Tiberius wahrscheinlich auch hören. Wir setzten uns an den Küchentisch, und meine Frau las mir den Brief vor. Er hatte elf Seiten, Herr Tiberius schilderte detailliert, was meine Frau und ich seiner Ansicht nach mit unseren Kindern gemacht hatten. Ich kann das hier nicht wiedergeben, obwohl ich es genau erinnere, da ich den Brief in den folgenden Monaten mehrmals las, mit einem Ekel, wie er mir bis dahin unbekannt war. Ich will nur sagen, dass sich die Szenen, die Herr Tiberius schilderte, vor allem in der Badewanne oder unter der Dusche abspielten, einige auch in unserem Ehebett. Häufige Wörter waren «Pimmel» und «Muschi», die Kinder schrien «Oh, ist das heiß» oder «Rubbel nicht so doll». Das war besonders bestürzend für mich, dass die Schilderungen nicht komplett aus einer kranken Phantasie kamen, sondern dass sie mit Elementen der Realität versetzt waren,
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