Angst (German Edition)
unserer familiären Realität. «Rubbel nicht so doll» ist ein Satz, der im Badezimmer gefallen ist, genauso «Oh, ist das heiß». Wahrscheinlich kommen diese Sätze in allen Badezimmern der Welt vor, soweit kleine Kinder sie nutzen. Herr Tiberius hatte sie bei uns abgelauscht und mit seinem Wahn verknüpft. Er nahm uns damit das Gefühl reiner Unschuld, das gerade angesichts dieser Vorwürfe so notwendig ist. Ich begann, noch während meine Frau las, mein Gedächtnis nach solchen Situationen zu durchsuchen. Wann hatte ich die Dusche anfangs zu heiß eingestellt? Wann hatte ich mit einem Handtuch, das vielleicht nicht ganz weich war, feste gerubbelt? Und lag nicht schon in dem zu heißen Strahl oder dem nicht ganz rücksichtsvollen Abtrocknen meiner Kinder unter Zeitdruck am Morgen eine kleine Misshandlung? Herr Tiberius hatte uns mit diesem Brief unsere Gedanken diktiert, hatte uns kleine Zweifel an uns selbst eingeträufelt, und so sollte es in den nächsten Monaten bleiben.
Meine Frau legte den Brief auf den Küchentisch und sagte: Der will unsere Kinder. Mir war dieser Gedanke auch gekommen. Wer so detailliert Sex mit Kindern schildert, kann nur ein Pädophiler sein. Sie sprang auf und schrie: Ich bring den um! Sie schrie weiter, noch schriller: Das Schwein, diese Kellerassel, den mach ich fertig! Ich nahm sie in den Arm. Wir standen lange eng umschlungen in unserer Küche, ich glaube, es war das erste Mal, dass ich meine Frau nach einer ihrer Schreiereien von mir aus in den Arm genommen habe. Ich dachte in diesem pathetischen Moment, dass alles gut ist zwischen uns, dass wir eine Krise hatten, die aber jetzt, im Angesicht der Gefahr, überwunden war. Ich täuschte mich, Ehen sind komplexer. Und ich meine nicht dieses leichte Befremden, das sich nach der Umarmung einstellte. Ich hatte ein neues Bild von meiner Frau bekommen, eigentlich zwei neue Bilder. In dem einen las sie den Brief vor, fast tonlos, manchmal stockend, einmal kurz mit zittriger Stimme, las Szenen, in denen sie ihre Kinder sexuell missbrauchte. In dem anderen Bild war sie mit unseren Kindern, mit Paul und Fee, in der Badewanne oder unter der Dusche und tat die Dinge, die Herr Tiberius beschrieben hat. Ich glaubte nicht ein Wort davon, nicht eine Sekunde lang, und trotzdem waren diese Bilder da und gehörten jetzt zu meiner Frau. Ich schob sie immer wieder weg, aber sie kehrten zurück, genauso wie die neuen Bilder, die ich nun von mir und meinen Kindern im Kopf hatte.
Am Nachmittag hatten wir einen Termin bei unserer damaligen Anwältin. Vorher fuhren wir kurz beim Kinderladen vorbei und schärften den beiden Erzieherinnen dort ein, dass unsere Kinder auf keinen Fall von einem Dritten abgeholt werden dürfen, egal, was er sagt. Das ist ohnehin eine Grundregel in unserem Kinderladen, niemand, der nicht von den Eltern autorisiert und den Erzieherinnen vorgestellt wurde, darf ein Kind abholen. Aber wir wollten sichergehen, wir wollten, glaube ich, auch das Gefühl haben, etwas tun zu können. Dann saßen wir bei der Anwältin, Hand in Hand, während sie die Briefe von Herrn Tiberius las. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, das ich danach noch oft haben sollte: Was ist, wenn sie nicht uns glaubt, sondern ihm, wenn sie denkt, dass etwas dran sein könnte an den Vorwürfen? Zum ersten Mal saß ich dort als ein Mann, über dem der Schatten eines vermuteten Kindesmissbrauchs lag und der vor der Frage stand, wie er beweisen kann, dass er seine Kinder nicht missbraucht hat. Mir wurde bewusst, dass wir fortan auf das Vertrauen und das Wohlwollen anderer angewiesen waren. Ich erinnere mich auch noch an dieses Gefühl bewusster Rechtschaffenheit und Wohlanständigkeit, dieses fast heilige Gefühl. Angesichts dieser Vorwürfe war ich überaus rechtschaffen und wohlanständig. Und ich erinnere mich an ein Gefühl von Zuversicht in jenem Anwaltsbüro, Herr Tiberius hatte einen Fehler gemacht. Dieser infame Brief würde uns in die Lage versetzen, ihn aus dem Haus und unserem Leben zu befördern, vielleicht nicht sofort, aber in ein paar Wochen bestimmt.
Ekelhaft, sagte die Anwältin, es tut mir so leid, dass Sie das durchmachen müssen. Das ist doch Beleidigung, sagte ich, schwere Verleumdung. Von Recht und Rechtsbegriffen hatte ich damals wenig Ahnung, hatte nur ein Gefühl für Recht. Es muss doch leicht sein, fuhr ich fort, ihn damit aus seiner Wohnung zu befördern. Die Anwältin sah mich an und sagte eine Weile nichts. Sie war dunkelhaarig, hatte die
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