Angst (German Edition)
Stümper erwiesen. Als er den Brustkrebs entdeckte, gab es schon Metastasen in der Leber, in den meisten Fällen ein Todesurteil. Aber meine Schwester kämpfte mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hatte, sie unterzog sich einer Hormontherapie, wurde Vegetarierin und stand jeden Morgen um halb sechs auf und machte Tai-Chi in einem Park. Der Krebs verschwand. Cornelia sah sich als überlebenden und gesunden Menschen, und wir, ihre Familie, sahen das für sie und für uns genauso. Aber wir wussten mittlerweile genug über Krebs, dass wir einen Gedanken nicht verdrängen konnten, auch wenn wir ihn nie aussprachen: Krebs versteckt sich manchmal, er kommt wieder, gerade Lebermetastasen. Deshalb freuten wir uns über alles, was Cornelia guttat. Ein Mann tat ihr ohne Zweifel gut, gerade nach der Trennung, und wenn sie sich Mircea wegen dessen angeblicher Heilkräfte ausgesucht hatte, war es mir recht, auch wenn ich nicht daran glauben konnte. Vielleicht war er einfach jemand, der sie herrlich vögelte, und auch solches Glück konnte ein Mittel gegen den Krebs sein, warum denn nicht? Jedenfalls waren wir nicht in der Lage, irgendetwas zu tun, das dem Glück meiner Schwester im Wege stand. Auch deshalb schwiegen wir, auch deshalb verriet ich meine Werte. Es war ein doppelter Verrat, weil ich einerseits schwieg zu diesem verächtlichen, barbarischen Blick auf den Rechtsstaat, die Demokratie und die Zivilisation, und weil ich mir andererseits wünschte, dass mein Vater ins Gästezimmer ging, wo gewiss eine seiner Waffen lagerte. Weihnachten schliefen meine Eltern immer bei uns, und wir hatten meinem Vater beibringen müssen, dass er seine Waffe hier nicht unter das Kopfkissen legen konnte, wie es zu Hause seine Gewohnheit war. Eines unserer Kinder hätte sie finden und großes Unheil anrichten können. In meiner Wut auf Mircea stellte ich mir vor, wie mein Vater ihm mal kurz seine Wumme an den Schädel hält, damit er aufhört, diesen Dreck zu erzählen, damit er sieht, dass auch wir wehrhaft sind. So war ich an diesem Weihnachtsfest zu schwach, um die Zivilisation entschieden zu verteidigen, und erlag gleichzeitig gedanklich den Verlockungen der Barbarei.
Wir brachten den Heiligen Abend friedlich zu Ende. Mircea war irgendwann müde von seinen Tiraden, setzte sich und war wieder liebenswürdig zu allen. Meine Schwester hatte die ganze Zeit geschwiegen, nun turtelte sie mit ihrem Freund, als sei nichts geschehen, als habe sie nichts Verstörendes gehört. Ich war froh, als die beiden weit nach Mitternacht gingen.
An diesen Mircea dachte ich, als ich schlaflos in meinem Bett lag. Ich fragte mich, was er in meiner Lage getan hätte. Wahrscheinlich würde Herr Tiberius nicht mehr leben. Oder Mircea hätte ihn so lange durchgeprügelt, bis er ausgezogen wäre. Oder gefoltert. Ich wünschte, Mircea wäre mir ein guter Schwager geworden, sodass ich ihn jetzt anrufen könnte, damit er die Sache für mich erledigt. Ich schämte mich für diesen Wunsch. Ich konnte ihn ohnehin nicht anrufen, er war so tot wie meine Schwester, war noch vor ihr bei einem Autounfall in Rumänien gestorben. Ich hätte ihn auch nicht angerufen, wirklich nicht. Ich glaubte an den Rechtsstaat, so wie ich heute noch an ihn glaube, auch wenn sich in unserem Fall eine Lücke aufgetan hat.
Die Demokratie sieht oft nicht gut aus, zu viele Kaspereien von Politikern, und trotzdem ist die Demokratie das Beste, was wir haben, finde ich. In einer Diktatur würden genau jene Leute, die mir Angst machen, regieren, die skrupellos-intelligenten, und sie würden sich dafür jener Leute bedienen, die mir noch mehr Angst machen, der dümmlich-brutalen. Meine Angst vor der Diktatur ist die Angst vor dem Ausgeliefertsein, die Skrupellos-Intelligenten sagen den Dümmlich-Brutalen, dass sie mich fertigmachen sollen, weil mir die Freiheit am Herzen liegt. Die Demokratie dagegen ist die Regierungsform der Leute, die nicht zuschlagen wollen oder zuschlagen können. Früher hätte man vielleicht gesagt, sie ist die Regierungsform der Schwächlinge. Ich bin in diesem althergebrachten Sinne ein Schwächling, ja, zugegeben, ich will meine Position mit Verhandlungen durchsetzen, nicht mit Faustkämpfen oder Schießereien. Wir Schwächlinge haben ein großes Interesse daran, dass das Faustrecht nicht gilt, deshalb haben wir den Rechtsstaat gegründet und die Polizei an diesen Rechtsstaat gebunden. Unser Problem ist, dass wir gut darin sind, eine Gesellschaftsform zu entwickeln,
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