Angst (German Edition)
ein Fitnessstudio betrieb. Dort hatte ihn meine Schwester kennengelernt. Meine Mutter hatte mich vorgewarnt, dass jener Mircea «speziell» sei, wie sie sagte. Ich fand ihn erst einmal nett, er war offen, herzlich und sah blendend aus, breite Schultern, kernig. Er war ein neuer Typus Freund für meine Schwester, die ihr Leben bis dahin mit sanften, nicht besonders tatendurstigen Männern verbracht hatte. Von ihrem Gatten hatte sie keine Kinder gewollt, weil sie glaubte, dass er nicht in der Lage sei, Kinder zu versorgen, und ehe er sich dazu in die Lage versetzen konnte, verließ sie ihn. Mircea dagegen strotzte vor Energie.
Seitdem meine Frau unser Weihnachten in die Hand genommen hat, gelingt uns eine schöne Festlichkeit. Während die Christbäume im Foxweg und in Frohnau klein und karg ausgefallen waren, sorgt Rebecca für stattliche Nordmanntannen, deren Spitzen sich unter der hohen Decke biegen. Meine Frau hat einen Blick für das Schöne, und deshalb sind unsere Bäume stimmig und feierlich geschmückt, manchmal rot, manchmal weiß, manchmal honigfarben. Wir haben keine ausgeprägten Weihnachtsrituale, in meiner Familie ist niemand überzeugter Christ, außer Cornelia, die sich mit fünfzehn, sechzehn Jahren dem Protestantismus annäherte, um ihn dann entschlossen zu praktizieren. Auch deshalb war Mircea eine Überraschung für mich, die Lebensfreude, die er ausstrahlte, passte nicht zu dem Bild, das ich von meiner Schwester hatte. Sie war aber nicht missionarisch, sie hat uns Weihnachten so feiern lassen, wie wir das wollten. Zunächst gingen alle in die Kirche, dann war die Bescherung, von der ich leider sagen muss, dass sie meine Kinder Jahr für Jahr in Wesen verwandelt, die mir fremd sind. Ich kann es nicht anders sagen: Während der Bescherung, während Paul und Fee gierig ihre Pakete aufrupfen, von einem Geschenk zum nächsten hetzen, und da liegt immer ein Berg von Geschenken, und am Ende trotzdem ein wenig enttäuscht fragen, ob das alles war, während dieser halben Stunde sind mir meine Kinder fremd. Wir singen nicht, wir sagen weder Gedichte noch Gebete auf, nach der Bescherung gibt es bald das Abendessen, das immer meine Mutter macht, und immer serviert sie uns gefüllte Pute mit Rotkohl und Kartoffeln, danach Bratäpfel. Meine Schwester betete vor dem Essen am Tisch, für die anderen war das jedes Mal eine seltsame Minute, weil wir nicht wussten, was wir mit unseren Händen machen sollten. Auf den Tisch? Unter den Tisch? Falten? Übereinanderlegen? Wohin schauen? Was denken? Ich glaube, anfangs, in der Zeit, als ich mich Cornelia gegenüber immer noch arschig verhalten habe, schaute ich mitleidig oder gar mokant. Später schaffte ich so eine Art Minutentrance innerer Neutralität, und dann war sie schon tot.
Ich weiß nicht, ob wir bei jenem Weihnachtsfest, das in unserer Familienerzählung das Mircea-Desaster genannt wird, besser davongekommen wären, wenn wir festere Rituale gehabt hätten, ein anderes Bewusstsein von Weihnachten, ein christlich-festliches. Vielleicht hätten wir uns dann das Fest nicht aus der Hand nehmen lassen, sondern darauf bestanden, dass es nach unseren Vorstellungen verläuft, und zu diesen Vorstellungen gehört, dass Weihnachten nicht gestritten wird, dass einer den anderen schont, nicht angreift, Waffenstillstand sozusagen.
Es begann gar nicht schlecht, Mircea war charmant zu meiner Schwester, war auch charmant zu den anderen Frauen, einschließlich Rebeccas Großmutter, bemerkte immer, wenn ihnen noch Soße fehlte oder ihre Weingläser nur noch fingerbreit gefüllt waren. Wir waren alle ein bisschen verzaubert von dieser Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit, die wir füreinander nie aufgebracht hatten, jedenfalls nicht meine Eltern und meine Geschwister. Und er spann uns ein in einen endlosen Erzählfaden, der schillernd war und seidig angenehm. Mircea entführte uns in den gigantischen Palast, den sich Ceauşescu in Bukarest gebaut hatte. Wir streiften mit ihm durch die Säle, die groß waren wie Turnhallen, durch die endlosen Gänge, in die Nischen, die kein Mensch je betreten hatte, wir sahen die Pracht der elefantösen Kronleuchter und der goldenen Wasserhähne und trafen die eigenartigen Gestalten, die in irgendeinem Winkel des Palasts Dienst taten, ein Mosaik verlegten oder Fenstersimse entstaubten und längst vergessen waren. Er selbst arbeitete als Elektriker und schraubte Tausende Lichtschalter in die Wände des Palastes, ohne ein Ende absehen zu können,
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