Angst (German Edition)
ohne anderen Menschen zu begegnen. Seine Erzählung klang, als sei er der wahre Herr dieses steinernen Riesenreichs, der Mann, bei dem alle Fäden zusammenliefen und der dafür sorgte, dass der Bau trotz Engpässen bei der Lieferung des Materials nicht stockte. Mich störte, dass er Sympathien zeigte für Ceauşescus Diktatur, aber ich nahm das als nostalgische Spinnerei hin. Nachdem die Revolution Ceauşescu und dessen Frau hinweggefegt hatte, ich erinnere mich gut an die Bilder ihrer Leichen, ging Mircea in den Westen und landete nach einigen Wirrnissen in Berlin, wo er Fitnesstrainer wurde und später ein Fitnessstudio übernahm. An dieser Stelle seiner Erzählung, nach den Bratäpfeln, begann ich mich unwohl zu fühlen, denn Mircea wusste nicht nur, wie Körper in Form kommen, er konnte auch etwas für die Seele tun, da er sich im Besitz telepathischer Kräfte wähnte. Seine Hände, die so lange Lichtschalter in Ceauşescus Palast geschraubt hatten, waren seiner Ansicht nach Wunderheilerhände. Als er meinen skeptischen Blick sah, sprang er auf und massierte Rebeccas Großmutter den Nacken. Sie hatte bei der Bescherung über Schmerzen geklagt. Ob es schon besser sei, fragte er nach einer Minute, und was sollte die alte Frau anderes sagen als ja. Sie war zweiundneunzig. Er warf mir einen triumphierenden Blick zu, massierte weiter und erzählte, dass ein paar Banditen, wie er sagte, in der vergangenen Woche in sein Fitnessstudio eingebrochen seien und einen Laptop und eine Musikanlage gestohlen hätten. Und was macht die Polizei, fragte er. So, wie er fragte, so höhnisch, war die Antwort klar: nichts. Die Polizei in Deutschland tut nie etwas, sagte Mircea. Wenn er in jener Nacht zufällig an seinem Fitnessstudio vorbeigekommen wäre und die Einbrecher gesehen hätte, würden sie nicht mehr leben, das sei gewiss. Man dürfe da keine Gnade kennen, sonst würde es immer schlimmer, und in Deutschland werde es immer schlimmer. Niemand wehre sich dagegen. Ich sagte, dass wir in einem Rechtsstaat lebten und die Polizei die meisten Verbrechen aufkläre. Ha, rief er, die Hände immer noch im Nacken der Großmutter. Wir hörten eine lange Aufzählung von Diebstählen und Morden, um die sich nie ein Polizist gekümmert habe. Die Opfer waren sämtlich Bekannte von ihm. Ich sah zu meinem Vater, früher hatte er selbst solche Reden gehalten, aber er war milder geworden mit den Jahren und wählte jetzt die Grünen. Er schwieg, und er sah Mircea mit einem Blick an, der darum flehte, dass dieser Mann vielleicht doch gut sein könne für Cornelia, auch wenn es gerade nicht danach aussah. Die Deutschen seien einfach zu schlapp, sagte Mircea, die würden nur noch fressen und über ihre Rente nachdenken, die hätten keine Kraft mehr, sich zu wehren, und deshalb würde Deutschland bald untergehen. Ich stand auf, ging zum Tannenbaum und pfriemelte die abgebrannten Kerzen aus den Haltern und steckte neue hinein. Ich machte noch einen lahmen Versuch, unseren Rechtsstaat zu verteidigen, aber Mircea schnitt mir das Wort ab. Seine Hände massierten nicht mehr, sondern lagen auf den Schultern der Großmutter. Euch fehlen Männer, sagte er, ihr habt schöne Frauen, sagte er mit einem charmanten Blick auf meine Schwester und meine Frau, aber richtige Männer habt ihr nicht mehr. Ich fragte mich, ob das Anzünden der Kerzen am Weihnachtsbaum Männerarbeit ist oder Frauenarbeit. Zum Feuer gehört das Kochen, weshalb in der Urhorde eher die Frauen für Feuer zuständig waren, also konnte meine Tätigkeit nicht genuin männlich sein, sondern war weiblich, aus männlicher Sicht also weibisch. Andererseits hatte ich Bilder gesehen, auf denen Männer bei der Jagd Mammuts mit Fackeln einschüchterten. Insofern stand ich in männlicher Tradition, als ich mit einem extralangen Streichholz die honigfarbenen Kerzen anzündete. Hauptsache, schöne Frauen, sagte ich, aber das war ein erbärmlicher Versuch, die Situation mit Humor zu retten. Mircea machte immer weiter, er hielt eine große Tirade gegen die übersatten Deutschen, und wir schwiegen dazu. Wir waren genau das, was er behauptete: zu schlapp. Wobei es ein wenig ungerecht ist, das zu sagen, es stimmt nur zum Teil. Wir wussten damals schon, dass meine Schwester Krebs hat, Brustkrebs. Ihr Frauenarzt hatte das vor zwei Jahren festgestellt, nachdem er es jahrelang übersehen hatte. Meine Schwester, ein gewissenhafter Mensch, war regelmäßig zur Mammographie gegangen, aber ihr Arzt hatte sich als
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