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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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ich wieder am Küchentisch und überlegten, was wir tun sollten. Auf die Hilfe des Staates setzten wir nicht mehr, von dort würde keine Rettung kommen. Doch ausziehen, fragte ich. Wir hatten schon einmal über diese Lösung geredet, sie aber verworfen, obwohl sie so nahe lag, ein klarer Schnitt, das Monster aus dem eigenen Leben werfen, indem man es verlässt. Aber wir hatten gesagt, dass wir uns nicht vertreiben lassen wollen, wir waren im Recht und wollten nicht vor dem Unrecht weichen. Wir liebten unsere Wohnung, sie war unsere Heimat, unsere bürgerliche Burg, unsere Altersversorgung. Dieses Gespräch hatten wir vor zwei Wochen geführt, nun waren wir verzweifelter, ich wäre gegangen, aber meine Frau wollte immer noch nicht. Kommt nicht in Frage, sagte sie, wenn hier einer geht, dann «unser Untermensch». Sie sah mich an, dann stand sie auf, und kurz darauf hörte ich, wie sie sich die Zähne putzte. Ich war ein bisschen erschrocken von diesem Wort. Ich glaube nicht, dass Rebecca es in einem Sinn gemeint hat, der irgendetwas Nazihaftes hat, es ging nicht um eine unterstellte Minderwertigkeit, sie meinte das haustopographisch. Er war der Mann, der unter uns wohnte, also unser Untermensch. Das Possessivpronomen unterstreicht diese Bedeutung.
    In den nächsten zwei Wochen passierte nichts. Wir lebten unser Sowieso-Leben, und ich ging, trotz meines Schwurs, an einem Abend ins Beluga, der letzte Michelin-Stern der Stadt, der mir noch fehlte. Ich aß gerade Tataki vom Hirschkalb auf Eichenholzkohle mit Quitte, Ingwer und Lakritze und redete mit dem Sommelier über den Wein, den ich zu kräftig fand für das zarte Hirschkalb, als er mich plötzlich eigenartig ansah, geschockt, auch ein bisschen angeekelt. Im selben Moment spürte ich ein Kribbeln unterhalb meines linken Nasenlochs. Sie bluten aus der Nase, sagte der Kellner, ich tupfte mit dem linken Zeigefinger auf die Haut über der Lippe und spürte eine dicke Flüssigkeit. Ich hielt mir den Finger vor die Augen und sah Blut, mein Blut. Der Sommelier, wieder ganz die gefasste Liebenswürdigkeit, reichte mir eine Stoffserviette. Geht es Ihnen nicht gut, fragte er. Doch, doch, beeilte ich mich zu sagen. Ich blutete nicht stark aus der Nase, aber für längere Zeit, die Stoffserviette färbte sich allmählich rot ein. Auch in Gesellschaft wäre mir das peinlich gewesen, aber allein war es unerträglich. Der Einzelne wird im Toprestaurant ohnehin argwöhnisch beäugt. Man hat ihn im Verdacht, dass er die Gespräche an den Nachbartischen belauscht, man glaubt, dass er zu verschroben ist, um eine Frau oder einen Freund zu haben, man ist genervt vom Reißen des Skizzenpapiers. Mit Nasenbluten aber ist er der Kranke, Aussätzige, der den anderen den festlichen Abend verdirbt, einen Abend für fünfhundert Euro, indem er ihnen seine Einsamkeit zumutet und nicht einmal damit klarkommt, sondern traurig herumbluten muss. Ich brach das Essen ab, nachdem ich die Blutung gestillt hatte, zahlte für das ganze Menü und fuhr nach Hause. Meine Frau saß auf dem Sofa, das über der Wohnung von Herrn Tiberius steht, die Beine angewinkelt, und las in einem Roman. In der Tür blieb ich stehen und sagte, wobei ich auf den Fußboden zeigte: Nicht der da zerstört meine Familie, sondern ich.

    Ich habe Rebecca an der Universität Bochum kennengelernt, in der Mensa. Ich war nach dem Abitur nach Bochum gegangen, wollte weg von meinen Eltern, weg auch aus Berlin, der Stadt meiner Eltern. Mir war schon länger klar, was ich studieren würde, Architektur, das lag nahe für mich, weil ich gern zeichnete. Der Nachteil meines Umzugs war, dass ich als Berliner keinen Wehr- oder Zivildienst hätte leisten müssen, als Bochumer jedoch schon, aber das war mir egal. Ich nahm mir eine Wohnung mit zwei Zimmern, studierte Architektur, arbeitete nebenbei auf dem Bau und wartete auf meinen Einberufungsbescheid, der nach ein paar Monaten tatsächlich kam. Ich ließ mich mustern und stellte einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Meine Gewissensprüfung war klassisch, ein paar alte Männer, einer davon Kriegsinvalide mit nur einem Arm. Sie fragten dies und das, bis sie zum Kern kamen: Sie gehen mit Ihrer Freundin durch den Wald, und plötzlich stehen Sie drei russischen Soldaten gegenüber, die Ihre Freundin vergewaltigen wollen, aber Sie könnten das verhindern, weil Sie eine Waffe dabeihaben, was würden Sie tun? Meine Generation war auf diese Frage vorbereitet, es gab Denkfiguren, bei denen man die

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