Angst (German Edition)
Russen in Schach hielt oder gar beschoss und trotzdem einigermaßen als Pazifist durchging. Ich kannte diese Schliche, es gab Literatur, es gab Schulungen, aber ich hatte mich für einen anderen Weg entschieden. Ich sagte, dass ich unter keinen Umständen schießen würde, dass es mir unmöglich sei, einen Menschen zu attackieren, dass ich versuchen würde, die drei Männer mit Worten zu beschwichtigen. Aber die lassen sich nicht beschwichtigen, sagte der Mann, der nur einen Arm hatte. Ich würde nicht schießen, sagte ich. Dann wird Ihre Freundin vergewaltigt, wollen Sie das, fragte einer der alten Männer. Das will ich natürlich nicht, sagte ich, aber ich kann auch nicht schießen, es ist mir unmöglich. Dann wird Ihre Freundin vergewaltigt, sagte der Einarmige. Ich kann nicht auf Menschen schießen, sagte ich. Eine Weile ging es auf diese Weise hin und her, dann schickten sie mich raus, weil sie sich beraten wollten. Ich kam durch, der Vorsitzende des Ausschusses sagte, dass sie sich sicher seien, dass ich am Ende doch schießen würde, aber immerhin hätte ich meinen Standpunkt mit einer solchen Entschlossenheit vertreten, dass sie mir eine pazifistische Gesinnung nicht absprechen könnten. Ich stellte einen Antrag, meinen Zivildienst aufschieben zu dürfen, und studierte erst einmal ein paar Semester.
Es war zunächst das damals übliche Studentenleben, Müßiggang, Bier, Skat, ein paar Freunde, manchmal Freundinnen, aber nicht für lange. Weihnachten fuhr ich zu meinen Eltern, wo sich nichts verändert hatte. Meine Schwester studierte Modedesign an der Hochschule der Künste und lebte noch zu Hause, genauso mein kleiner Bruder, der noch zur Schule ging. Wir hatten diese mickrigen Weihnachtsbäume, aßen Pute, spielten Scrabble mit meiner Mutter, während mein Vater las, und wir hielten einigermaßen Frieden.
Als ich im vierten Semester war, stand mein kleiner Bruder eines Tages bei mir in der Tür und sagte: Ich wohne jetzt bei dir. Ich wollte das nicht, ich wollte nicht, dass er die Schule abbricht, aber ich konnte ihn nicht fortschicken. Er bekam das Zimmer, das bislang mein Wohnzimmer gewesen war, wir arbeiteten zusammen auf dem Bau, wir gingen zusammen trinken, wir stritten und rauften, und ich beriet die Mädchen, die er unglücklich machte, und manchmal schlief ich mit ihnen, aber nur, nachdem sie meinen kleinen Bruder gefragt hatten, ob das in Ordnung sei. Erst fühlte sich unser Zusammenleben ganz gut an, aber dann war mein kleiner Bruder häufig weg, ohne dass ich wusste, wo er war, und wenn ich ihn am Morgen sah, wusste ich, dass er auf eine Weise feierte, die ihn zerstörte. Später hat er mir erzählt, dass er in jener Zeit «alles außer spritzen» gemacht habe. In manchen Nächten war er von den Drogen so fertig, dass ich ihm stundenlang vorlas, weil ich Angst hatte, er würde nicht mehr aufwachen, wenn er einschlief. Ich las «Der Herr der Ringe», das war damals, vor den Filmen, ein Buch für die, die sich etwas auf ihre Originalität einbildeten. Ich las gegen die glasigen Augen meines Bruders an, gegen sein Wegdämmern, manche Sätze schrie ich heraus, damit er wach blieb, manchmal schlug ich ihn, wenn seine Lider, die ständig runterklappten, eine Weile nicht mehr hochgekommen waren. In jener Zeit begann mein Bruder, Bilder zu malen, Tuschebilder mit Motiven aus dem Buch «Der Herr der Ringe». Das wurde die Grundlage für seinen späteren Beruf, und ich bin ein bisschen stolz darauf, dass ich diese Grundlage gelegt habe.
Nach anderthalb Jahren verschwand mein Bruder. Ich hatte meinen Zivildienst in einem Altenpflegeheim begonnen, kam eines Abends nach Hause und fand auf dem Küchentisch einen Zettel, auf dem stand: Danke, großer Bruder. Ich ging sofort in sein Zimmer und sah, dass seine Sachen dort nicht mehr hingen. Ich telefonierte ein bisschen herum, aber niemand wusste, wohin mein kleiner Bruder gegangen war, auch meine Mutter und meine Schwester wussten es nicht. Wir machten uns Sorgen, und es dauerte ein halbes Jahr, bis ich eine Postkarte aus Montevideo bekam, halb bemalt, halb beschrieben. Wenn ich das alles richtig verstand, war Bruno zur Bundesmarine gegangen und machte gerade mit dem Zerstörer «Mölders» eine Reise um die halbe Welt. Verstehst du das, fragte ich meine Mutter. Er ist der Sohn seines Vaters, sagte sie. Und ich, wer bin ich dann, fragte ich. Du auch, sagte sie.
Wenige Wochen nachdem ich mein Studium wieder aufgenommen hatte, lernte ich in der Mensa Rebecca
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