Angst (German Edition)
ich unbedingt nach unten kommen müsse. Willst du nicht raufkommen, fragte ich. Nein, ich muss dir etwas zeigen, sagte er. Ich lief nach unten, gespannt, was meinen Bruder dazu bewog, unser Wiedersehen nach drei Jahren auf der Straße zu begehen. Das Erste, was mir auffiel, war das Tattoo an seinem Hals, dann die langen Haare, wir umarmten uns, und dabei sah ich ein Motorrad auf dem Bürgersteig stehen, einen Chopper mit einer langen Vorderradgabel und einem tiefen Sitz. Tank, Schutzbleche und Seitenverkleidungen waren aufwendig bemalt. Mir war sofort klar, dass Bruno dieses Motorrad verziert hatte, es war sein Stil, seine Art, Welten entstehen zu lassen, düstere, mystische Welten, die sich an den «Herrn der Ringe» anlehnen. Was sagst du zu dem Teil, Alter, fragte er, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. Sehr schön, sagte ich. Bisschen mehr Überschwang, sagte er. Grandios, hinreißend, atemberaubend. Er boxte mir gegen die Brust, ich boxte zurück, dann lagen wir uns wieder in den Armen. Wo hast du das Geld für dieses Motorrad her, fragte ich und bereute es gleich. Mein kleiner Bruder war wieder da, ich hätte nicht gleich den Erziehungsberechtigten spielen sollen. Gehört einem Kunden, sagte Bruno. Bei Kaffee und Whiskey in meiner Wohnung erzählte er, dass er sich eine spezielle Airbrushtechnik angeeignet habe und nun Autos und Motorräder verschönere, wie er sagte. Läuft schon ganz gut, sagte er.
In Wahrheit lief es nie richtig gut, bis heute nicht. Mal verdient er Geld, mal nicht, dann lebt er von dem Geld, das ich ihm gebe oder das seine Frauen verdienen, aber die verdienen nicht viel und bleiben auch nie lange. Es gibt Liebhaber für seine Motive, manche leben in Amerika, manche in China oder Katar. Er kommt viel rum, er nimmt Drogen und lässt es wieder, es geht ihm gut, glaube ich. Er hat sich nie ein anderes Leben gewünscht. Manchmal denke ich, dass er es leichter hat als ich. Hin und wieder musste ich ihm mit der Western Union Geld überweisen, nach Lima oder nach Houston, weil er sonst nicht mehr nach Deutschland hätte zurückkehren können. Einmal bin ich nach Blantyre in Malawi gefahren, weil ihn dort ein paar Leute in eine Hütte gesperrt hatten. Er schuldete ihnen tausend Dollar und hatte nichts mehr. Das alles ist in Ordnung für mich, er ist mein kleiner Bruder, und ich bin für ihn da. Lange Zeit war er die Familie, die ich hatte. Damals zog er zu Rebecca und mir in die Wohnung, es war eng, aber es ging ganz gut, die beiden mögen einander. Nach einem Jahr nahm er sich eine kleine Wohnung in Bochum, wo er bis heute lebt.
Viel mehr kann ich zu meiner Bochumer Zeit nicht sagen. Doch, es gab ein merkwürdiges, mich verstörendes Ereignis. Eines Tages, das war noch vor den Handys, klingelte in unserer Wohnung das Telefon, ich nahm ab und hörte einen Satz, den ich erst gar nicht aufnehmen konnte, weil er mir so fremd vorkam: Hier ist Papa, ich wollte mal hören, wie es dir geht. Ich glaube, dass ich lange geschwiegen habe. Ich kannte damals die Stimme meines Vaters gar nicht vom Telefon. Er hatte noch nie bei mir angerufen, nicht einmal zu Geburtstagen. Meine Mutter rief dann an, gratulierte mir und erzählte die Geschichte meiner Geburt, wie schon im Jahr zuvor und davor auch. Von meinem Vater ließ sie Glückwünsche übermitteln. Danke, grüß ihn zurück, sagte ich. Nun war er am Telefon und fragte, wie es mir gehe. Was sollte ich sagen? Gut, sagte ich. Studium läuft, fragte er. Ja, ganz gut. Es entstand eine kleine Pause, ich suchte nach Sätzen, aber bevor ich welche gefunden hatte, sagte mein Vater: Na, dann ist ja gut, wollte nur mal hören, wie es dir geht. Er legte auf. Als ich das Rebecca erzählt hatte, sagte sie, dass er mir ein Signal geben wollte, ein Signal des Interesses. Aber er hat sich nie für mich interessiert, sagte ich. Doch, sagte sie, das hat er, du hast mir erzählt, dass er dich zum Schießplatz mitgenommen hat. Ist doch schon ewig her, sagte ich bockig. Nach einigen Tagen forderte mich Rebecca auf, meinen Vater doch einmal anzurufen, aber ich tat es nicht. Heute werfe ich mir das vor. Ich glaube, dass er sich vorgenommen hatte, seinen Sohn wiederzuentdecken, stieß aber auf ein hartes Herz, mein Herz.
Ich kann nicht sagen, dass ich ihn in meiner Bochumer Zeit vermisst habe, aber ich habe einen Vater vermisst. Ich habe das einmal schmerzlich erlebt, als ich nach Weihnachten in Berlin auf den Zug wartete, der mich zurück nach Bochum bringen sollte. Neben
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