Angst (German Edition)
mir stand ein Mann, der ungefähr in meinem Alter war und seinen Vater dabeihatte. Als der Zug einfuhr, herzten sich die beiden so innig, so lange und unter so vielen Tränen, dass es mir selbst Tränen in die Augen trieb. Ich hielt es kaum aus, mir das anzusehen, aber ich tat nichts, um das Verhältnis zu meinem Vater zu verbessern.
Im Jahr der Einheit war ich fertig mit meinem Studium und wollte zurück nach Berlin, wollte die neue Stadt mitbauen, wie ich mir damals sagte. Rebecca ging mit und setzte ihr Studium an der Freien Universität fort. Ihr war da schon klar, dass sie nicht Ärztin werden würde. Sie interessierte sich für das menschliche Genom, in diesem Bereich wollte sie forschen. Wir haben dann bald geheiratet, weil wir uns sicher waren, dass wir zusammengehörten. Sehe ich das heute anders? Nein. Wir gehören zusammen, aber wir können nicht mehr sagen, dass dieses Wort für ein gutes Leben miteinander steht, sicherlich nicht durchgängig.
Am 15. Juni im Tiberius-Jahr gaben wir eine Abendgesellschaft, und das war ein erster Schritt zurück in unsere Normalität, haben wir gesagt, wir wollten wieder etwas von dem Leben leben, das wir vor Herrn Tiberius hatten. Wir luden die drei Paare ein, mit denen wir uns am besten verstehen und die alle über unsere Lage informiert waren, dazu einen Schulfreund von Rebecca, der zufällig mit seiner Frau in der Stadt weilte. Die Frau kannten wir nicht. Rebecca und ich vereinbarten, dass wir an diesem Abend nicht über Herrn Tiberius reden würden, wir wollten einen normalen Abend, einen wie früher, und das hatten wir unseren engen Freunden bei der Einladung auch so gesagt, nur nicht dem Schulfreund natürlich, weil der nicht eingeweiht war. Wie immer kochte Rebecca vorzüglich, sie hätte einen Stern verdient, und der Abend kam ganz gut in Schwung, ein zügiger Tisch, ich öffnete die Weinflaschen in kurzen Abständen. Wir sprachen über einen Politikskandal, über die Frage, ob Kinder in normalen, staatlichen Schulen gut aufgehoben sind oder ob sie besser auf eine Privatschule gehen, damit sie dann irgendwann in Yale oder Cambridge landen können. Die Meinungen waren geteilt, vor allem die Frau von Rebeccas Schulfreund, eine Familienanwältin, sprach sich «gegen Privilegien schon für Kinder» aus und für die staatlichen Schulen, «damit alle Schichten zusammenkommen und möglichst lange zusammenbleiben». Ich gab ihr in gewisser Weise recht, sagte aber, dass mich die Sorge um das Wohl meiner Kinder dazu verleiten könne, «asozial» zu handeln. Dieser Begriff wurde dann heftig diskutiert, auch Rebecca fand ihn nicht gut, ich öffnete den nächsten Black Print, obwohl noch zwei Flaschen offen waren, aber, wie gesagt, er braucht seine Zeit. Einer meiner Freunde sagte nun, der wahre Unterschied zwischen den Schichten sei, dass sie sich ihrer Umgebung in je ganz anderer Weise zumuten würden. Er hielt es für eine «hervorragende Eigenschaft der Bürgerlichen», wie er sagte, dass wir uns anderen nicht in all unseren Tätigkeiten zumuten würden. Wir äßen nicht Döner in der U-Bahn, wir tränken nicht Bier in der Öffentlichkeit und urinierten selbst betrunken nicht gegen Straßenbäume. Hier meldete sich wieder die Familienanwältin zu Wort und berichtete, wie schlimm es inzwischen sei, in der Bahn erster Klasse zu fahren. Da muteten sich «all Ihre Bürgerlichen» den Nachbarn auf das unerträglichste mit geschäftlichem Handygeschrei zu. Dazu konnte und wollte jeder etwas beitragen, es wurde laut an unserem Tisch, und um zwei Uhr morgens bat ich um gedämpfte Stimmen, wir wollen ja «unseren Herrn Tiberius nicht stören», sagte ich mit einem süffisanten Lächeln und zeigte nach unten. Unsere Freunde grinsten. Das weckte das Interesse von Rebeccas Schulfreund, der wissen wollte, um wen es sich bei Herrn Tiberius handele, der müsse ja ein interessanter Fall sein, da ihn alle anderen am Tisch offenbar kennen würden. Da ich das Thema idiotischerweise angesprochen hatte, gab Rebecca unseren Plan auf und erzählte ausführlich von Herrn Tiberius, redete sich dabei in Rage, sodass auch das Wort «unser Untermensch» fiel. Ich forderte sie zwischendurch mehrmals auf, leise zu sprechen, da zwischen uns und Herrn Tiberius nur dreißig Zentimeter waren, keine Teppiche natürlich, bei uns liegt altes Eichenparkett. Noch während Rebecca redete, sah ich, wie die Frau ihres Schulfreundes die Schultern hochzog und den Mund verkniff. Könnte es nicht sein, fragte sie
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