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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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kennen. Ich saß alleine an einem Tisch und aß Hühnerfrikassee, das ich mir mit Maggi schmackhaft gemacht hatte, als sie sich zu mir setzte und sagte: Dich würde ich gerne kennenlernen. Ich war so überrascht, dass mir nichts einfiel. Kannst du was sagen, fragte sie. Ja, sagte ich. Sie machte große Augen und schaute mich eine Weile an. Ich hatte sie hier schon häufiger gesehen, sie hatte mittellanges schwarzes Haar und einen dunklen Teint und war ein bisschen füllig, aber nicht dick, sondern auf eine angenehme Art füllig. In der Mitte der Stirn hatte sie einen Leberfleck, ziemlich genau in der Mitte, und das hat mich zunächst irritiert, weil ich finde, dass die markanten Dinge nicht in die Mitte gehören, sondern versetzt sein müssen, jedenfalls von einem graphischen Standpunkt aus gesehen. Sie sah aus wie eine Südländerin, sprach aber ohne Akzent. Ich helfe dir, sagte sie jetzt. Es geht schon, sagte ich und nannte meinen Namen und mein Studienfach. Und warum Architekt, fragte sie. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich ihr eine ewig lange Antwort gegeben. Schau dir doch an, in was für Städten wir leben, in was für Häusern, in welcher Welt, sagte ich. Es reiche nicht, Häuser bauen zu wollen oder Städte, man müsse Welten bauen. Damals war das so bei mir, ich hatte mir viel vorgenommen und fand nicht, dass Größenwahn eine schlechte Eigenschaft ist, sondern eine gute. Ich ließ vor Rebeccas Augen die Welten entstehen, die ich bauen wollte, Welten, in denen sich Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und alles andere auf eine neue Weise verknüpfen würden, wie ich sagte, und ich sagte das nicht nur, um Rebecca zu beeindrucken, sondern ich hatte das tatsächlich vor. Ich holte einen Block hervor und machte Skizzen, die ich Rebecca ausführlich erläuterte, und manchmal sah ich auf und sah, dass Rebecca mich anschaute und nicht die Skizzen von den neuen Welten.
    Rebecca und ich gingen dann viel miteinander aus, tranken im Sachs, tanzten in der Zeche und schauten uns Stücke im Bochumer Schauspielhaus an, aber es dauerte, bis es Liebe wurde. Rebecca studierte Medizin, ihr Vater ist Altphilologe an der Universität Aachen, ihre Mutter Ärztin, und sie hat auch schwarze Haare, kommt aber nicht aus dem Süden Europas, sondern stammt aus der deutschsprachigen Minderheit in Belgien. Ich nannte Rebecca deshalb später manchmal «meine spanische Niederländerin», obwohl sie das nicht besonders mochte. Niemand weiß, wo die Dunkelheit in der Familie herkommt, wahrscheinlich von einem Zigeuner, sagte Rebecca. Manchmal begann sie einen Tag damit, dass sie sagte, heute müssten wir uns siezen, und dann siezten wir uns bis zum Abend, oder sie sagte, heute seien wir Figuren in einem Stück von Tschechow, und sprach mich mit Iwan Iwanowitsch an, worauf ich sie Anna Petrowna nannte, und sie sagte Sätze wie: Charakter, Iwan Iwanowitsch, Sie immer mit Ihrem Charakter, und ich sagte Sätze wie: Finden Sie nicht auch, dass es langweilig ist, Anna Petrowna, sterbenslangweilig? Das waren keine Zitate, so gut kannten wir die Stücke nicht, wir spielten nur die Stimmung nach. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie bei mir einzog, da hatten wir noch nicht miteinander geschlafen, aber dann erlebten wir zauberhafte Jahre miteinander, Sex, bis wir nicht mehr wollten, nicht mehr konnten, aber es noch einmal taten, weil wir mussten. Nichts durfte aufhören, kein Gespräch, kein Ausflug, keine Reise, und wenn es doch aufhören sollte, weil irgendeine Verpflichtung rief, sagten wir die Verpflichtung ab, und als das nicht mehr ging, weil wir sonst ohne Examen, ohne Freunde, ohne Zahnfüllungen hätten leben müssen, trennten wir uns mit einem Schmerz, wie er sonst nur an den Kais für Auswandererschiffe vorkommt.
    Diese Zeit ist unser Gründungsmythos, sagte Rebecca später einmal zu mir, er trägt unsere Ehe. Wenn ich dich nicht erreichen kann, ich meine nicht am Telefon, sondern wenn ich dich nicht erreichen kann, obwohl du in der Wohnung bist oder sogar neben mir sitzt, dann denke ich an unsere Gründungsjahre, und ich denke, dass das, was wir da erlebt haben, nicht verschwunden sein kann, dass es wiederkommen wird. Ich mag diesen Gedanken von Rebecca, obwohl ich mir auch manchmal überlegt habe, dass dieser Gründungsmythos zu unserer Beruhigung beitrug, dass wir auch deshalb mein Reingleiten in die Lieblosigkeit hingenommen haben.
    Nach drei Jahren kam mein kleiner Bruder zurück. Er klingelte und sagte durch die Gegensprechanlage, dass

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