Angst (German Edition)
schließlich, dass Herr Tiberius nur ein Opfer sei? Schließlich sei er ein Heimkind, und man wisse ja, wie es in einem Heim zugehe. Ich hatte das Wort Opfer bis jetzt nicht auf Herrn Tiberius angewendet, für uns war er der Täter. Auch wenn wir wussten, dass er wahrscheinlich eine schlimme Kindheit gehabt hatte, sahen wir darin keinen Grund, der ihm das Recht gab, uns zu terrorisieren. Meine Frau gab der Familienanwältin eine scharfe Antwort, dann ging es hin und her, immer lauter, alle Versuche von mir und anderen, die beiden zu beschwichtigen, schlugen fehl. Der «arme Mann» dort unten, sagte die Familienanwältin, müsse täglich mitansehen, wie wir unseren «Reichtum ausleben», müsse sich anhören, wie wir «in Schuhen von Gucci» über unser Parkett «stöckelten», und erlebe Kinder, die ihren großen Karrieren kaum noch entgehen könnten. Das sei sicherlich schwer zu ertragen für einen «armen Mann» wie ihn, für den «die Gesellschaft» keinen anderen Platz übrig habe als «ein dunkles, muffiges Kellerloch». Da müsse er sich ja wehren, sagte die Familienanwältin. Wieso wehren, schrie meine Frau, wir haben ihm nie etwas getan. Doch, fauchte die Familienanwältin, wir provozierten ihn durch unseren Nazijargon. Jetzt reichte es mir auch, und ich verbat mir diese Unterstellung. Die Familienanwältin sagte daraufhin ganz ruhig, von ihrer Arbeit wisse sie überdies, dass Kindesmissbrauch auch in bürgerlichen Familien vorkomme, und gerade ein «armer Mann» wie Tiberius, der im Heim «mit Sicherheit» selbst missbraucht worden sei, reagiere bei diesem Thema natürlich äußerst empfindlich und habe «spezielle Sensoren». Meine Frau sprang auf und schrie die Anwältin an, sie solle sofort unsere Wohnung verlassen. Mein bester Freund, der neben ihr saß, hielt Rebecca fest, sonst hätte sie sich sicherlich auf die Anwältin gestürzt, aber sie schaffte es trotzdem, eine Flasche Black Print zu greifen und auf den Boden zu werfen, eine leere Flasche, die nicht zersprang, sondern fortrollte, unser Parkett ist ziemlich elastisch, aber nicht wirklich eben. Rebecca schrie und schrie, und dann klingelte es an der Tür. Es war sofort still am Tisch, es war gegen halb drei morgens, wir hatten kein Taxi bestellt und kein Auto vorfahren hören. Die Frau über uns war zu ihrer Tochter verreist, das Ehepaar, das unter dem Dach wohnte, feierte selbst gerne und hatte sich noch nie über Lärm beschwert. Ich stand auf, ging in den Flur und öffnete die Tür. Er könne nicht schlafen, sagte Herr Tiberius, ob wir nicht leiser sein könnten. Er sagte das nicht maulig-verzweifelt, sondern maliziös. Meine Frau schreie so, ob er mal mit ihr reden könne. Ich sah ihn nur undeutlich, da er das Licht im Treppenhaus nicht eingeschaltet hatte. Er trug einen Bademantel, der zu groß war für ihn, jedenfalls zu lang, der fast bis zum Boden reichte und dessen Ärmel die Hände fast vollständig bedeckten. Er könne nicht mit meiner Frau reden, sagte ich, leider nicht cool, sondern entrüstet über diese Unverschämtheit. Herr Tiberius: Aber sie schreit so wütend. Ich: Ich kann Ihnen versichern, dass wir nun leiser sein werden. Und schloss die Tür. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und sah, dass sich einige der Männer schützend hinter die Stühle ihrer Frauen gestellt hatten, auch der Schulfreund meiner Frau. Ich habe das, glaube ich, mit einem verächtlichen Lächeln bedacht. Herr Tiberius bittet uns, leiser zu sein, sagte ich. Das Gespräch kam nicht mehr in Gang, wir versuchten es noch einmal mit Politik, aber bald herrschte betretenes Schweigen, und dann sagte der Schulfreund meiner Frau, dass es spät geworden sei und sie nun ins Hotel fahren wollten. Die anderen schlossen sich an. Ich bestellte Taxen, machte ein bisschen Smalltalk, alleine, weil Rebecca verschwunden war, heimste verhaltene Komplimente für das tolle Essen und den schönen Abend ein, auch von der Familienanwältin, und brachte unsere Gäste zur Gartenpforte, als die Taxen eingetroffen waren. Umarmungen, geschüttelte Hände, ein paar verstohlene Blicke der Gäste zum Souterrain von Herrn Tiberius. Es war dunkel dort, die Vorhänge hatte er zugezogen. Als ich wieder in der Wohnung war, saß meine Frau auf dem Sofa, sie kickte sanft mit einem Fuß gegen den Hals der Flasche Black Print, die sich daraufhin im Kreis drehte, leise kollernd. Du musst etwas tun, sagte sie, du musst endlich etwas tun.
Am nächsten Tag rief die Familienanwältin an und entschuldigte
Weitere Kostenlose Bücher