Angst (German Edition)
Paul hat das dunkle Haar und den dunklen Teint meiner Frau, und wenn ich das ihr gegenüber bemerke, sagt sie gütig, dass er meine Nachdenklichkeit und meine Handgelenke habe. Ich habe schmale Handgelenke, sodass ich nur kleine Uhren tragen kann, nicht diese gewaltigen Chronometer, die man auch in einen Bahnhof hängen könnte. Viele meiner Kollegen tragen die gerne, die dümmeren weisen darauf hin, dass sie dafür fünfzehntausend Euro «auf den Tisch des Hauses» gelegt hätten, für mich ohnehin ein unmöglicher Betrag. Paul hat einen krummen kleinen Finger an der linken Hand, wie ich, wie meine Mutter. Ich würde Paul ein mildes Kind nennen, ein Kind, das mich oft rührt, weil es mich am Telefon fragt: Und wie geht es dir, Papa? Fee hat ebenfalls dunkle Haare, aber helle Haut, sie hat meinen Ehrgeiz, meinen Willen, das Leben so zu gestalten, wie man es haben will. Sie hat mehr Wucht als ihr Bruder, sie nahm nur widerwillig das Essen, das wir ihr gaben, und sie fragt mich nie am Telefon, wie es mir geht, aber vielleicht ist sie noch zu klein dafür. Sie ist nicht so nachdenklich wie ihr Bruder, sie ist schnell und direkt und dabei oft bestrickend witzig. Wir hatten nach Ausbruch der Tiberius-Krise gedacht, dass wir mehr auf sie achtgeben müssen, weil sie nicht gelassen ist, sondern stark emotional auf die Ereignisse ihrer Welt reagiert, aber dann war es Paul, der mit diesem seltsamen Rüsseln anfing. Er hatte zu dieser Zeit Schwierigkeiten mit einem Jungen, der ihn nicht schlug, aber bedrängte, und Paul ging nicht mehr gerne in den Kinderladen. Wir waren ratlos, wir hatten versucht, den Kindern ein unbeschwertes Leben zu ermöglichen, trotz der Bedrohung aus dem Keller, wir sprachen nicht darüber und taten ihnen gegenüber so, als gebe es Herrn Tiberius gar nicht. Für uns sah es zunächst aus, als sei das die richtige Strategie. Unsere Kinder spielten und lebten so wie immer. Wir merkten ihnen nichts an, aber dann begann das Rüsseln. Hatten wir uns falsch verhalten? War ihr unermüdliches Spielen schon ein Spielen wie im Fieber? Kinder machen ja immer weiter, selbst bei knapp vierzig Grad Körpertemperatur stecken Fee und Paul ihre Legosteine zusammen, genauso rastlos wie sonst. Bekamen sie also doch mit, in welchem Zustand ihre Eltern waren, in welcher Gefahr sie selbst lebten, und fühlten sich alleingelassen damit, weil niemand darüber redete? Hatte Paul aus Sorge oder Angst mit dem Rüsseln begonnen, auch wenn er das abstritt? Ich machte erbärmliche Versuche, es ihm abzugewöhnen, indem ich ihn zunächst freundlich darauf hinwies, sobald er sein Gesicht verzog. Ich sagte ihm, er müsse das nicht tun, er könne aufhören damit. Mit den Tagen wurde ich ungeduldig, ich ermahnte ihn streng, fuhr ihn sogar an. Er schaute dann schuldbewusst, aber auch fragend, als wisse er überhaupt nicht, was ich von ihm wolle. Einmal ließ ich mich zu dem Ausruf hinreißen: Hör auf mit dem Rüsseln! Ich sah in große, verletzte Augen und entschuldigte mich. Aber ein Wort, das in der Welt ist, bleibt da, fürchte ich.
Am 27. Juni ging ich abends in den Keller und klopfte an die Tür von Herrn Tiberius. Nichts rührte sich. Ich möchte mit Ihnen reden, machen Sie bitte auf, sagte ich. Nichts. Ich ging in unsere Wohnung zurück, nahm das Telefon und wählte seine Nummer. Ich hörte das Klingeln bei ihm. Er nahm dann wirklich ab und meldete sich mit Dieter Tiberius. Tiefenthaler, sagte ich und, überflüssigerweise: Ihr Nachbar. Es macht mir nichts aus, ins Gefängnis zu gehen, sagte Herr Tiberius sofort. Ich überging diesen Satz, den ich gar nicht richtig verstand, und machte ihm ein Angebot: fünftausend Euro auf die Hand, wenn er die Wohnung innerhalb von vier Wochen verlasse, dazu die Kosten für einen Umzug. Er wolle sich das überlegen, sagte Herr Tiberius und legte auf. Es war die Lösung unserer Zeit: Geld. Eine schnöde Lösung, ohne Kraft, ohne Eleganz, ohne Heldentum. Die Lösung des Händlers, der die zentrale Figur unserer Zivilisation geworden ist. Die Lösung auch meiner Schicht, wir haben Geld, und mit unserem Geld kaufen wir uns das Leben, das wir haben wollen. Aber es gibt Grenzen. Ich weiß nicht, warum ich fünftausend Euro gesagt habe und nicht zehntausend, warum in einer solchen Angelegenheit Kalkül eine Rolle spielt. Ich hätte mir auch fünfzigtausend Euro leisten können, mit Mühe und Not und einem Kredit von Freunden vielleicht. Aber ich sagte fünftausend Euro. Es war wohl im Verhältnis zu
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