Angst (German Edition)
meinem Einkommen die äußerste Summe, mit der ich Unrecht belohnen wollte.
In der Nacht grübelte ich über jenen Satz, den er zum Gefängnis gesagt hatte. Der Satz machte mir Angst, weil er ihn unverwundbar machte. Mir wurde klar, dass all das, was ich als meinen Vorteil gesehen hatte, mein Nachteil war: meine Familie, mein Beruf, mein gutes Leben, mein Geld, mein guter Ruf. Ich konnte das alles verlieren, während er nichts zu verlieren hatte. Er lebte in einem verschatteten Souterrain, lebte allein, lebte von Hartz IV, und die Hölle kannte er schon, ob Kinderheim oder Gefängnis, er war hart im Nehmen, ich dagegen von Verlustängsten durchsetzt. Der Verlierer ist stark, weil er nichts mehr zu verlieren hat, Leute wie ich, scheinbar die Sieger des Lebens, sind schwach, weil sie so viel haben, das sie erhalten wollen. Ich glaube, dass gerade wir Aufsteiger besonders viel Angst haben. Unsere Angst ist, dass wir das Erreichte, das Erworbene wieder verlieren, weil es nicht gefestigt ist, nicht moralisch, nicht finanziell. Es fehlt die Substanz, das Fundament einer langen Familientradition. Gleichzeitig fehlt uns der Mut, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, wir bleiben verhaftet in der Kleinbürgerlichkeit und werden gequält davon. Die Reputation ist uns alles, den guten Ruf wollen wir uns erhalten, und deshalb sind wir so unruhig, so nervös. Für den Adel dagegen zählte Reputation nicht viel, es ging um die Ehre. Es konnte alles passieren, aber dann hatte man die Chance, seine Ehre durch eine Tat wiederherzustellen, meist durch kämpferische Akte, im Duell oder durch Tapferkeit in der Schlacht.
Zwei Tage später lag ein Brief auf dem Sims im Hausflur. Ich riss ihn hoffend auf und wurde enttäuscht: Ich bleibe, Sie können mir nichts. Mein merkantiler Ansatz war gescheitert.
Ich stand jetzt jeden Morgen mit dem Gedanken auf, dass ich meine Frau wieder für mich gewinnen musste, und versuchte es damit, sie zu beeindrucken. Ich erzählte ihr ausführlich von den Anfragen, die sich bei mir stauten, obgleich dieses Verb ein bisschen zu groß war für die tatsächliche Auftragslage, und zeigte ihr einen Artikel aus der «Architectural Digest», in dem eins meiner Häuser lobend erwähnt war. Du sollst mich nicht beeindrucken, sagte Rebecca bald, du sollst mir deine Normalität zumuten, die hast du mir vorenthalten. Langweile mich, sagte sie, damit fängt es an bei uns. Ich war beschämt, ich merkte erst nach diesem Satz, dass ich einen falschen Weg gewählt hatte. Es ging nicht darum, dass ich sie für mich gewinnen musste, es ging darum, dass ich mich für meine Frau gewinnen musste. Nachdem ich das verstanden hatte, war es gar nicht so schwer. Ich erzählte ihr, was ich zuletzt erlebt, gelesen und gedacht hatte, und sie machte es genauso. Unsere Hände fanden beim gemeinsamen Einkaufen wieder zueinander, es gab lange Umarmungen einfach so, die uns Gänsehaut auf den Armen machten, aber das war nicht Eros, sondern Befremden, weil wir unsere Körper in einer solchen Situation nicht mehr kannten. Am meisten half der andere Blick. Dass ich nicht mehr das sah, was mich an meiner Frau störte, sondern das, was ich an ihr mochte. Ich änderte die Selbsterzählung über meine Ehe und war dadurch plötzlich mit einer ganz anderen Frau zusammen, nicht mit einer Frau, die mir durch ihre jähzornigen Ausbrüche Angst machte, sondern mit einer Frau, die zweimal im Jahr einen Ausbruch hatte, und das war nun wirklich nicht schlimm. Für mich zählte nun die Zeit dazwischen. Erst damals begriff ich, was so simpel ist: Wir sind, gerade in langen Beziehungen, nicht mit dem Menschen zusammen, den es wirklich gibt, sondern mit dem Menschen, den wir uns in unserem Kopf erschaffen, vor allem durch die Auswahl unserer Erinnerungen. Wahrscheinlich gibt es diesen einen «wirklichen» Menschen nicht einmal. Wenn Rebecca etwas tut oder sagt, sehe ich das im Kontext meiner Erinnerungen, und die können sehr verschieden sein, je nach meiner Stimmung.
Nach dieser ersten Phase der Annäherung machten wir ein Abendessen zu zweit im Wohnzimmer, bewusst in unserem Wohnzimmer und nicht in der Küche. Wir kochten zusammen, das heißt, ich schälte, was es zu schälen gab, Rebecca übernahm die Aufgaben, die Können verlangten. Dann verschwanden wir in unseren Bädern und zogen uns um. Rebecca trug zum Essen ein schwarzes Kleid, hohe Schuhe und großen Schmuck, ich einen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte von Tom Ford. Kerzen, das
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