Angst - Kilborn, J: Angst - Afraid
Venen zuerst zusammengedrückt und dann durchtrennt wurden. Wie es sich anfühlte, wenn einem die Muskeln durchgekaut wurden.
Jessie Lee fing an, wie wild um sich zu schlagen. Ihr Körper faltete sich wie ein Klappmesser zusammen. Ihr Kopf und ihre Schultern drehten sich vor und zurück, und ein ungeheurer Adrenalinstoß erlaubte es ihr, die Beine zu bewegen. Endlich riss der Draht, und ihr Fuß war frei.
Sie verspürte etwa eine Tausendstel Sekunde lang Erleichterung. Ihre Kniescheibe befand sich nicht länger in Taylors Mund, und sie konnte die Beine ausstrecken. Aber dann begann sie zu fallen.
Jessie Lee landete mit dem Gesicht zuerst auf dem Haufen ihrer toten Freunde und Nachbarn. Allerdings blieb sie nicht lange oben liegen. Die Leichen verschoben sich durch ihr Gewicht, so dass sie zwischen ihnen zu versinken drohte.
Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte sich oben zu halten. Aber auf diese Weise verteilte sie lediglich Blut und sonstige
glitschige Flüssigkeiten, die sie weiter nach unten gleiten ließen. Grausige, noch lauwarme Gliedmaßen berührten sie, blasse Gesichter mit einem starren Blick schienen sie küssen zu wollen. Dann glitt ein Toter über sie, und sie war in ein dicht gepacktes Grab verwesender Leichen geschlossen. Die Hysterie hatte sie vollständig und endgültig im Griff. Jessie Lee kämpfte noch wilder als zuvor, aber das beschleunigte ihren Abstieg. Als sie ihr hysterisches Winden und Krümmen endlich einigermaßen unter Kontrolle hatte, befand sie sich etwa in der Mitte des Haufens.
Es war dunkel, aber nicht dunkel genug. Sie konnte noch sehen. Die Toten umgaben sie und drängten sich von allen Seiten gegen sie. Ihr Gesicht war an eine aufgeschlitzte Brust gepresst, ihre rechte Hand steckte in einer tiefen Halswunde. Und der Gestank … Der Tod roch wie faulige Nelken. Es war ein so starker Geruch, dass sie ihn auf der Zunge schmecken konnte.
Sie versuchte sich erneut zu drehen, so dass sie zumindest mit dem Gesicht ins Freie kam. Sie schob den Körper über sich - ein Mann, den sie aus der Kirche kannte - beiseite. Blut tropfte aus seinem Mund auf Jessie Lees Gesicht. Sie reckte den Hals und wandte sich ab. Daraufhin träufelte ihr das Blut ins Ohr.
Das Gewicht auf ihrer Brust ließ sie schwer atmen. Es war fürchterlich, gebissen zu werden. Aber in einem Haufen Leichen zu ersticken war weitaus schlimmer. Jessie Lee trat um sich, und der Haufen bewegte sich von neuem, bis ihr Gesicht in einem mit Urin durchtränkten Schritt steckte. Dann begannen die Leichen zu purzeln, und sie prallte mit dem Rücken gegen die geflieste Wand der Dusche, wo sie sich den Hinterkopf anschlug.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Toten beruhigt hatten.
Jetzt, da wieder Blut durch Jessie Lees Beine floss, schienen sie auf einmal in Flammen zu stehen. Der Schlag auf den Hinterkopf hatte verdammt wehgetan, und sie wollte gerade nach der Beule tasten, als sie Schritte hörte.
Jemand befand sich in der Dusche.
Sie erstarrte und blickte dann zwischen angewinkelten Ellenbogen und verdrehten Beinen hindurch auf den Eingang. Aber ihr wurde die Sicht versperrt.
Soll ich Hilfe rufen?, dachte sie. Es konnte jemand aus der Sporthalle sein, der sie retten würde.
Oder Taylor.
Vorsichtig blickte sie an sich herab und sah, dass sie von oben bis unten mit geronnenem Blut und sonstigen unaussprechlichen Flüssigkeiten bedeckt war. Wenn sie sich nicht bewegte, würde man sie ebenfalls für eine Leiche halten. Vielleicht würde er sie gar nicht bemerken. Sie hielt den Atem an und wartete darauf, dass Taylor wieder verschwand.
»… Hilfe …«
Die Stimme drang zu ihr und verschlug ihr einen Moment lang den Atem. Sie neigte langsam den Kopf und sah, dass sie auf Melody Montague lag, ihrer Grundschullehrerin. Noch vor weniger als einer Stunde hatten sie sich in der Sporthalle über Jessie Lees Hochzeit unterhalten.
Jessie Lee starrte auf Mrs. Montagues Hals, aus dem noch Blut trat. Aber die Wunde schien ihre Stimme nicht zu beeinträchtigen, denn wieder konnte sie hören, wie sie um Hilfe flehte.
Diesmal lauter.
Jessie Lee wandte den Blick zum Eingang und dann zurück auf Mrs. Montague.
»Psst.« Sie hielt den Finger auf Mrs. Montagues Lippen, aber die alte Frau schien es gar nicht zu merken.
»So hilf mir doch jemand.«
Schritte, die näher kamen. Taylor oder ein anderer befand sich in der Dusche.
»… Hilfe …«
»Ich helfe Ihnen«, flüsterte Jessie Lee. »Aber Sie müssen jetzt still
Weitere Kostenlose Bücher