Angst sei dein Begleiter: Thriller (German Edition)
zur anderen, sie versuchte zu erkennen, wo sie sich befand. Nach den mit Pappe vernagelten Fenstern zu urteilen, die oben an den Wänden eingelassen waren, musste sie in einem Keller gefangen sein.
Der kleine Raum war wie eine Werkstatt ausgestattet. In einer Ecke stand eine Nähmaschine, daneben ein Kübel mit Stoffen und Bordüren. Und in einer weiteren Ecke hing auf einem Bügel ein lavendelfarbenes Kleid in Damengröße. Der Anblick erfüllte sie mit lähmendem Entsetzen.
Sirenen. Sie hörte Sirenen. Suchte man sie? Ich bin hier, schrie ihr Verstand. Bitte, helft mir. Bitte, findet mich!
»Hörst du das?« John schnalzte mit der Zunge und schüttelte ein letztes Mal das Nagellackfläschchen. »Eine Tragödie. Dein Haus brennt gerade bis auf die Grundmauern ab.«
Charlie! Ein nie gekannter Schmerz fuhr ihr wie ein Stich durchs Herz. Charlie. O Gott, Charlie. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie versuchte verzweifelt, sie zurückzuhalten, wohl wissend, dass ihre Nase verstopfte, wenn sie weinte, und dass ihr dann der Erstickungstod drohte, weil ihr Mund zugeklebt war.
Sie durfte jetzt nicht an Charlie denken. Ihr Schmerz musste warten. Stattdessen versuchte sie, einen Ausweg aus ihrer Lage zu finden, eine Möglichkeit, ihr Leben zu retten. Sie versuchte, trotz des Klebebands zu sprechen. Falls sie John dazu bringen konnte, es zu entfernen, könnte sie vielleicht schreien.
Der stechende Schmerz an ihrem Hinterkopf und ihre Angst und ihre Trauer verursachten ihr ein Schwindelgefühl und Übelkeit, doch sie wusste, wenn sie dem nachgab, war ihr der Tod sicher.
John öffnete den Schraubverschluss des Lackfläschchens und betrachtete Annalises Nägel. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, verhindern, dass er sie berührte, doch die Fesseln an ihren Handgelenken ließen keine Bewegung zu.
»Wehr dich nicht, Annalise. Das macht es dir leichter«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Entspann dich einfach und lass mich tun, was notwendig ist.«
Noch einmal versuchte sie, mit ihm zu sprechen, während er anfing, den Lack auf den Nagel des Zeigefingers ihrer linken Hand aufzutragen. »Ich glaube, du wirst meine beste Schöpfung«, sagte er und pinselte weiter. »Und das Schönste ist, dass es nach der heutigen Nacht keine Blakely-Puppen mehr geben wird. Das Blakely Dollhouse wird nicht mehr existieren, wird abgebrannt sein, und dich wird es auch nicht mehr geben. Keine Blakely-Puppen mehr, die das Leben von kleinen Jungen zerstören.«
Annalise hielt still, als er sich dem nächsten Finger widmete. Er schien sich in einem Nebel von Erinnerungen verloren zu haben, dem sie nicht folgen konnte.
»Puppen dürfen nicht wichtiger sein als kleine Jungen.« Er hielt mitten in der Bewegung inne und sah Annalise an. »Dieses Miststück und deine Puppen haben mir das Leben zur Hölle gemacht. Deine Puppen waren das Einzige, das für sie zählte.«
Seine Hand zitterte, als er anfing, einen weiteren Fingernagel zu lackieren. »Halt’s Maul, Miststück«, sagte er leise. »Du hältst den Mund, Mutter. Ich bin kein Versager. Ich bin der großartigste Puppenmacher der Welt.«
Er brabbelte vor sich hin und geriet dabei offensichtlich in immer größere Erregung. Annalise war klar, dass sie vorher schon in Lebensgefahr geschwebt hatte, doch als sich seine Stimmung jetzt verdüsterte und sein Verstand sich immer weiter zu umnebeln schien, wusste sie, dass die höchste Gefahrenstufe erreicht war.
Plötzlich schleuderte er das Lackfläschchen quer durch den Raum und sprang von seinem Hocker auf. Er hielt sich die Hände über die Ohren und zitterte am ganzen Körper.
Dieser Mann war wahnsinnig. Der Wahnsinn hatte sich bisher tief in seinem Inneren verborgen, doch irgendwie mussten ihre Puppen bewirkt haben, dass er ausbrach und zu etwas Unkontrollierbarem anschwoll.
Da wusste sie, dass es kein Entrinnen gab, und sie versuchte nicht mehr, durch das Klebeband, das ihren Mund verschloss, zu sprechen. Es war unmöglich, mit diesem Menschen zu diskutieren, denn er hatte den Verstand verloren.
Sie konnte nur ahnen, dass seine Mutter wohl ein noch größeres Ungeheuer gewesen sein musste als er, dass sie Blakely-Puppen gesammelt und ihn als kleinen Jungen misshandelt hatte.
Ein hysterisches Lachen wallte in ihr auf. Sie würde nie die Gelegenheit bekommen, ihm zu erklären, dass auch sie ein Opfer der Puppen war. Sie würde nie die Gelegenheit haben, ihn wissen zu lassen, dass sie die Puppen genauso sehr hasste wie
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