Angst vor dem zweiten Anfang: turbulante Familiengeschichte (German Edition)
geben. David darf sich immer noch ein Buch aussuchen, aus dem ich ihm vorlese. Ich sitze dann in seinem Zimmer in einem Schaukelstuhl, er klettert auf meinen Schoß. Ich lese ihm vor und gebe ihm zwei Küsse, weil er zwei ist. Dann geht er ins Bett.“
Johannes sagte lange nichts, dann meinte er: „Du bist eine sehr gute Mutter, nicht wahr?“
Sie grinste. „Ich hoffe es. Aber ich weiß die Antwort noch nicht. Jahre liegen noch vor mir. Mir hat mal jemand gesagt, wenn man einmal Mutter ist, ist man es für immer. Das hört auch nicht auf, wenn sie ausziehen und studieren oder eine eigene Familie gründen. Mutter ist man lebenslang.“
„Ich halte dich für eine wundervolle Mutter, Sanna.“
Wahrscheinlich war das das schönste Kompliment, das ihr je jemand gemacht hatte, aber sie konnte es nicht annehmen.
„Woher willst du das wissen, Johannes? Du kennst mich doch gar nicht.“
„Ich würde dich gerne kennen.“
Seine Stimme war heiser und sinnlich und verursachte ihr eine Gänsehaut. Wenn sie seine Stimme hörte, während sie im Bett lag, war das höchst verführerisch. Es ließ sie sofort wieder an jede Einzelheit jener Nacht denken. Sie erinnerte sich daran, was sein Mund gesagt und gemacht hatte. Magische Erinnerungen. Erregende Erinnerungen. Erinnerungen, die ihr die Hitze ins Gesicht trieben und sie vor Verlangen schwach werden ließen und vor Verlegenheit. „Ich habe dir doch schon gesagt, Johannes, dass ich nicht ausgehe.“
„Ich bitte dich auch nicht darum, Susi.“
Susi. Noch nie hatte sie jemand einfach nur Susi genannt. Ihre Großmutter hatte immer Susanna zu ihr gesagt. Ihre Eltern und Freunde hatten den Namen zu Sanna abgekürzt. Selbst Rainer hatte sie Sanna genannt. Aber Johannes hatte sie in jener Nacht Susi genannt. Er hatte es geflüstert, gestöhnt. „Susi, ich will dich. Susi, ich brauche dich. Bitte, Susi, jetzt ... ich kann nicht mehr länger warten ... Komm mit mir, Susi ... Das ist es, Susi ... jetzt, Susi, jetzt, ... o Susi, Susi, Susi ...“
„Susi bist du noch dran?“
Seine Stimme brachte sie zurück in die Gegenwart. „Ich bin …“ Sie musste sich räuspern, ehe sie weitersprechen konnte. „Es tut mir leid, Johannes.“ Sie griff nach ihrer Decke und zog sie bis zum Kinn hoch.
Trotz der warmen Juninacht spürte sie plötzlich Kälte in ihren Knochen. Ihr war kalt, und sie war einsam. Der Seufzer, der ihr unwillkürlich entschlüpfte, klang selbst in ihren Ohren matt. „Wenn du dich nicht verabreden willst, was willst du dann von mir?“, fragte sie. Warum tat er ihr das an? Sie war nicht gut darin, einer Versuchung zu widerstehen.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mit dir ausgehen möchte, Susi. Ich habe nur gesagt, dass ich dich nicht darum bitte.“ Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er leise hinzufügte: „Noch nicht.“
Sanna schloss die Augen und betete um Stärke. Dieser Mann ließ nicht locker, und sie spürte, wie ihr Widerstand schwand. Es war das gleiche Gefühl, das sie jedes Mal bekam, wenn sie in die Bäckerei ging und das Tablett mit den Schokoladenkeksen sah. Sie waren, oh, so gut, aber, oh, so schlecht für sie. „Johannes, bitte.“
„Ich will nur mit dir reden, Susi. Sonst nichts.“
Reden! Fast hätte sie gelacht. Was sonst konnten sie am Telefon tun? Es war nicht seine Schuld, dass sie ständig ihren Erinnerungen nachhing.
„Worüber willst du reden?“
Er zögerte, als wüsste er nicht, was er sagen oder wie er es sagen sollte. Dann fragte er: „Wann trennst du dich von diesen schrecklichen Hähnchen im Esszimmer?“
Sie lächelte und ließ sich zurücksinken. Er wollte über die grässliche Tapete im Esszimmer reden. An alles Mögliche hatte sie gedacht, aber die Tapete war nicht darunter gewesen. „Sobald ich genug Energie habe, um die Tapete herunterzuholen.“
„Mama!“, brüllte Jonas, als er aus dem Wohnzimmer zur Küche rannte. „Ich kann Egon nicht finden!“
Sanna schälte sich mit dem Kartoffelschäler beinahe die Haut vom Daumen. „Was soll das heißen, du kannst ihn nicht finden? Ist er denn nicht in seinem Käfig?“ Das letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass der Leguan ihres Sohnes frei im Haus herumlief. Das letztemal, als das Reptil entkommen war, hatten sie zwei Tage gebraucht, um es zu finden, und es war nicht allzu begeistert darüber gewesen, sein neues Heim hinter dem Warmwasserbereiter im Keller verlassen zu müssen.
„Ich habe ihn aus dem Käfig genommen und nach unten
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