Angst
die sie brauchte. Einige waren ihre Freunde geworden. Er hätte ihnen dankbar sein sollen, aber er war es nicht. Die Türen des Lifts zum dunklen Untergeschoss öffneten sich. Ihm fiel ein, dass die Klinik über sehr viele Computertomografen verfügte. Viele Schwerverletzte wurden per Hubschrauber aus den Skiorten Chamonix, Megève und sogar Courchevel hierhergeflogen. Hoffmann ahnte die Unzahl an Büroräumen und technischen Anlagen, die sich in der Dunkel heit verbargen – eine ganze Abteilung, die jenseits des kleinen Außenpostens für Notfälle verlassen vor sich hin schlummerte. Ein junger Mann mit langen, schwarzen Locken ging ihnen mit großen Schritten entgegen. »Gabrielle!«, rief er laut. Er küsste ihr die Hand, drehte sich dann um und schaute Hoffmann an. »Zur Abwechslung hast du also mal einen echten Patienten für mich.«
»Das ist mein Mann, Alexander Hoffmann«, sagte Gabrielle. »Alex, das ist Fabien Tallon, der Röntgentechniker. Du erinnerst dich doch an Fabien, oder? Ich habe dir viel von ihm erzählt.«
»Ich glaube nicht«, sagte Hoffmann. Er schaute den jungen Mann an. Tallon hatte große, dunkle, leuchtende Augen, einen breiten Mund, sehr weiße Zähne und einen schwarzen Dreitagebart. Sein Hemd war weiter aufgeknöpft als nötig, sodass seine breite Rugbyspielerbrust nicht zu übersehen war. Hoffmann fragte sich plötzlich, ob Gabrielle vielleicht eine Affäre mit ihm hatte. Er versuchte, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, aber er wollte sich nicht verscheuchen lassen. Sein letzter Anfall von Eifersucht war schon Jahre her. Er hatte vergessen, dass die Eifersucht einem einen nahezu köstlichen Stich versetzen konnte. Sein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her, dann sagte er: »Ich möchte Ihnen für alles danken, was Sie für Gabrielle getan haben.«
»Ist mir ein Vergnügen, Alex. Also, mal sehen, was wir für Sie tun können.« Mühelos wie einen Einkaufswagen schob er das Bett durch den Kontrollbereich in den Raum mit dem Computertomografen. »Stehen Sie bitte auf.«
Wieder fügte sich Hoffmann mechanisch der Prozedur. Ihm wurden Mantel und Brille abgenommen. Man sagte ihm, er solle sich auf den Rand des mobilen Untersuchungstisches setzen, der Teil des Tomografen war. Der Kopfverband wurde entfernt. Man wies ihn an, sich mit dem Rücken auf den Untersuchungstisch zu legen, mit dem Kopf zur Öffnung des Tomografen. Tallon passte die Nackenstütze an. »In weniger als einer Minute ist alles vorbei«, sagte er und verschwand. Leise zischend schloss sich die Tür. Hoffmann hob leicht den Kopf. Er war allein. Jenseits seiner nackten Füße, hinter der dicken Glasscheibe in der gegenüberliegenden Wand, stand Gabrielle und beobachtete ihn. Neben ihr erschien Tallon. Sie wechselten ein paar Worte, die er nicht verstehen konnte. Er hörte ein Knacken, dann über Lautsprecher die laute Stimme Tallons.
»Flach auf dem Rücken liegen, Alex. Und möglichst nicht bewegen.«
Hoffmann tat, wie ihm befohlen. Ein Brummen setzte ein, und der Untersuchungstisch glitt rückwärts durch die breite Trommel des Tomographen. Er schaute das weiße Plastikgehäuse an. Die Prozedur erfolgte in zwei Schritten: einem kurzen für eine Übersichtsaufnahme und einem zweiten, langsameren, in dem die einzelnen Schnittbilder erstellt wurden. Es war, als bewegte er sich durch eine Art radioaktive Autowaschanlage. Der Tisch hielt an und glitt wieder zurück. Hoffmann stellte sich vor, sein Hirn würde von einem grellen, reinigenden Licht besprüht, dem nichts verborgen blieb – alle Verunreinigungen wurden von zischender, brennender Materie aufgespürt und ausgelöscht.
Der Lautsprecher knackte, und er konnte gerade noch hö ren, wie im Hintergrund Gabrielles Stimme verstummte. Täuschte er sich, oder hatte sie geflüstert? »Danke, Alex, das war’s«, sagte Tallon. » Bleiben Sie so liegen. Ich komme gleich rein und hole Sie raus.« Er nahm sein Gespräch mit Gabrielle wieder auf. »Es ist doch so …« Seine Stimme wurde abgeschnitten.
Hoffmann kam die Zeit lang vor, die er noch so dalag – jedenfalls lang genug, um darüber nachzudenken, wie einfach es für Gabrielle gewesen wäre, in den letzten Monaten eine Affäre anzufangen. Da waren die zahlreichen Stunden, die sie in der Klinik verbrachte, um die Bilder zusammenzutragen, die sie für ihre Arbeit brauchte. Und da waren die noch viel zahlreicheren Tage und Nächte, die er in seinem Büro mit der Entwicklung von VIXAL zugebracht hatte.
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