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Angst

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Welchen Fixpunkt hatte eine Ehe nach mehr als sieben Jah ren, wenn der Zusammenhalt, den Kinder ausübten, fehlte? Plötzlich spürte er eine weitere, lange vergessene Empfindung: den köstlich kindlichen Schmerz von Selbstmitleid. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass er anfing zu weinen.
    »Alles in Ordnung, Alex?« Tallons Gesicht erschien über ihm. Attraktiv, besorgt, unausstehlich.
    »Alles bestens.«
    »Sicher?«
    »Ja.« Hoffmann wischte sich mit dem Ärmel seines Morgenmantels schnell über die Augen und setzte seine Brille auf. Der rationale Teil seines Gehirns wusste, dass diese plötzlichen Stimmungsschwankungen wahrscheinlich Symptome eines Kopftraumas waren, aber das machte sie nicht weniger real. Er weigerte sich, sich wieder auf die Rolltrage zu legen. Er schwang die Beine vom Untersuchungstisch und atmete einige Male tief durch. Als er den anderen Raum betrat, hatte er seine Selbstbeherrschung zurückgewonnen.
    »Alex«, sagte Gabrielle. »Das ist die Radiologin, Doktor Dufort.«
    Sie deutete auf eine winzige Frau mit kurz geschore nem, grauem Haar, die vor einem Computerbildschirm saß. Dufort drehte sich halb um, nickte ihm über ihre schmale Schulter flüchtig zu und wandte sich dann wieder den Bildern der Tomografie zu.
    Hoffmann schaute auf den Bildschirm. »Bin ich das?«, fragte er.
    »Ja, Monsieur.« Sie drehte sich nicht um.
    Hoffmann betrachtete gleichgültig die Aufnahme seines Gehirns. Er war sogar enttäuscht. Das Schwarz-Weiß- Bild auf dem Bildschirm hätte alles sein können – Teil eines Korallenriffs, aufgenommen mit einer ferngesteuerten Unterwasserkamera, eine Ansicht von der Mondoberfläche, das Gesicht eines Affen. Die Unordnung, der Mangel an Form und Schönheit deprimierten ihn. Das bekamen sie sicher noch besser hin, dachte er. Das konnte nicht das Endprodukt sein. Das konnte nur ein vorübergehendes Stadium in der Evolution sein, und die Aufgabe des Menschen war es, den Weg für die nächste Stufe zu bereiten, so wie sich aus Gas organische Materie entwickelt hatte. Künstliche Intelligenz oder autonomes maschinelles Lernen, wie er es lieber nannte, beschäftigte ihn seit über fünfzehn Jahren. Törichte, von Journalisten bestärkte Menschen glaubten, das Ziel sei es, das menschliche Gehirn zu kopieren und eine digitalisierte Version von sich selbst herzustellen. Aber warum sollte man sich ernsthaft damit abgeben, etwas so Anfälliges und Unzuverlässiges mit ein gebautem Alterungsprozess nachzubilden: eine CPU , einen Hauptprozessor, der völlig zerstört werden konnte, wenn irgendein mechanisches Hilfsaggregat – wie das Herz oder die Leber – vorübergehend seine Tätigkeit einstellte? Das war, als verlöre man den Cray-Supercomputer mit seinem kompletten Datenspeicher, nur weil man einen Stecker auswechseln musste.
    Die Radiologin kippte das Bild des Gehirns auf seiner Achse nach vorn. Es sah aus, als nickte es ihm zu – ein Gruß aus dem Weltall. Sie ließ es rotieren. Sie drehte es hin und her.
    »Kein Anzeichen einer Fraktur«, sagte sie. »Keine Schwellung, das ist das Wichtigste. Allerdings frage ich mich, was das da ist …«
    Aus dem Schädelknochen ragte ein Höcker auf, der wie eine umgedrehte Walnussschale aussah. Eine weiße Linie von unterschiedlicher Stärke umschloss die schwammartige, graue Hirnmasse. Sie zoomte näher. Das Bild wurde größer, verschwamm und löste sich schließlich in einer blassgrauen Supernova auf. Hoffmann beugte sich vor, damit er sich die Aufnahme genauer ansehen konnte.
    »Da«, sagte Dufort und berührte mit dem abgekauten Nagel ihres ringlosen Fingers den Bildschirm. »Sehen Sie diese weißen Pünktchen? Die wie Sterne leuchten? Das sind winzige Blutungen im Hirngewebe.«
    »Ist das was Ernstes?«, fragte Gabrielle.
    »Nein, nicht unbedingt. Das ist eine typische Folge von Verletzungen dieser Art. Bei einem kräftigen Schlag auf den Kopf federt das Gehirn zurück. Die Folge ist eine kleine Blutung. Die scheint aber gestoppt zu sein.« Sie hob ihre Brille an und beugte sich wie ein Juwelier, der einen wertvollen Stein begutachtete, bis dicht zum Bildschirm vor. »Trotzdem würde ich gern noch eine Untersuchung machen.«
    Das riesige, unpersönliche Krankenhaus, das abnormale Testergebnis, das kühl verkündete medizinische Urteil, der erste Schritt in den unwiderruflichen Niedergang, in Hilflosigkeit und Tod – so oft schon hatte sich Hoffmann diesen Augenblick vorgestellt, dass er nicht sofort begriff: Das hier war

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