Angst
Gesichtszüge mit seiner Datenbank abzugleichen. (Während dieses Vorgangs war es wichtig, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.) Wenn man ein Besucher war, nannte man dem humorlosen Wachmann seinen Namen. Hatte man diese Hürde genommen, passierte man eine metallene Personenschleuse, ging durch einen weiteren kurzen Gang und bog dann nach links ab, wo sich plötzlich ein gewaltiger, von Tageslicht durchfluteter offener Raum vor einem auftat: In diesem Augenblick wurde einem klar, dass man sich in einem aus drei Häusern zusammengefügten Gebäude befand. Das Mauerwerk an der Rückseite war abgerissen und durch eine durchsichtige alpine Eislawine aus ungerahmtem Glas ersetzt worden, die sich über acht Stockwerke erstreckte. Man blickte hinunter in einen Innenhof, dessen Mitte ein sprudelnder Springbrunnen und weit ausgreifende Riesenfarne zierten. In schalldichten Glassilos glitten Zwillingsaufzüge lautlos auf und ab.
Als der Showman und Verkaufsmensch Quarry sich vor neun Monaten das Gebäude angesehen hatte, war er von dem Konzept sofort überwältigt gewesen. Hoffmann hatten vor allem die Computersysteme begeistert, die die Haustechnik steuerten – die Beleuchtung, die sich automatisch an die natürlichen Lichtverhältnisse anpasste, die Fenster, die sich zur Temperaturregelung automatisch öffneten, die Lüftungsschächte auf dem Dach, die frische Luft ansaugten und auf diese Weise eine Klimaanlage für die of fenen Arbeitsräume überflüssig machten, die Grundwasser- Wärmepumpen, die Regenwasser-Wiederaufberei tungsanlage mit ihrem 100 000-Liter-Vorratstank, mit dem alle Toiletten gespeist wurden. Das Gebäude wurde als holistisches, digital vernetztes Objekt mit minimaler Kohlenstoffemission angepriesen. Im Brandfall schlossen sich die Klappen des Belüftungssystems, um die Ausbreitung des Rauchs zu verhindern, und die Aufzüge fuhren ins Erdgeschoss, damit man sie nicht mehr benutzen konnte. Zudem war das Gebäude – was das Wichtigste war – an die schnellste Glasfaserleitung ganz Europas angeschlossen. Das gab den Ausschlag: Sie mieteten gleich den ganzen fünften Stock. Die Firmen, die die anderen Büros gemietet hatten, waren so geheimnisvoll wie ihre Namen – DigiSyst, EcoTec, EuroTel. Kein Mitarbeiter einer Firma schien die Existenz einer anderen auch nur wahrzunehmen. In den Aufzügen herrschte immer peinliche Stille – außer wenn Leute zustiegen und das gewünschte Stock werk nannten (das Spracherkennungssystem konnte Re gionaldialekte von vierundzwanzig Sprachen unterscheiden). Das gefiel Hoffmann besonders – seine Privatsphäre ging ihm über alles, und Smalltalk verabscheute er.
Der fünfte Stock war ein Königreich im Königreich, das durch eine Wand aus lichtundurchlässigem, türkisfarbenem Blasenglas von den Aufzügen getrennt war. Um die Räume betreten zu können, war es wie im Erdgeschoss nötig, sein entspanntes Gesicht von einem Scanner identifizieren zu lassen. Das Gesichtserkennungssystem aktivierte eine gläserne Schiebewand, die leicht vibrierend zur Seite glitt und den Blick auf den separaten Empfangsbereich von Hoffmann Investment Technologies freigab: niedrige schwarze und graue Polsterwürfel, die wie Kinderbauklötze zu Sesseln und Sofas zusammengesetzt waren; ein Couchtisch aus Chrom und Glas; verstellbare Konsolen mit Touchscreen-Computern, auf denen Besucher durchs Netz surfen konnten, während sie warteten, bis man sie hereinbat. Auf jedem Monitor verkündeten Bildschirmschoner in roten Buchstaben vor weißem Hintergrund die Leitlinien des Unternehmens:
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT KENNT KEIN PAPIER
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT KENNT KEIN INVENTAR
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT IST VOLLDIGITAL
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT EXISTIERT
Im Empfangsbereich lagen keine Zeitungen oder Zeitschriften aus: Es gehörte zur Unternehmenspolitik, möglichst keine Druckerzeugnisse oder Schreibpapier jedweder Art ins Haus zu lassen. Natürlich galt diese Regel nicht für Besucher, aber die Beschäftigten einschließlich der Seniorchefs hatten jedes Mal, wenn sie im Besitz von Dru ckerschwärze oder Zellstoff anstatt von Silikon oder Plastik er wischt wurden, eine Strafe von zehn Schweizer Franken zu zahlen und mussten sich überdies einen Eintrag im Intra net der Firma gefallen lassen. Es war erstaunlich, wie schnell sich die Gewohnheiten der Leute, sogar die von Quarry, durch diese einfache Vorschrift veränderten. Zehn Jahre nachdem Bill Gates in Digitales Business
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