Angst
seine Heils botschaft vom papierlosen Büro verkündet hatte, hatte Hoffmann sie mehr oder weniger umgesetzt. In gewisser Weise war er auf diese Leistung fast genauso stolz wie auf seine übrigen.
Deshalb war es ihm unangenehm, dass er jetzt mit seiner Erstausgabe von The Expression of the Emotions in Man and Animals durchs Empfangszimmer ging. Wenn er jemand anders dabei erwischt hätte, hätte er ihn darauf hingewiesen, dass der Text über das Projekt Gutenberg oder darwin-online.org.uk problemlos im Netz zugänglich sei, und er hätte ihn sarkastisch gefragt, ob er sich für einen schnelleren Leser als den VIXAL -4-Algorithmus halte oder ob er sein Gehirn auf die Suche nach Wörtern getrimmt habe. Er sah keinen Widerspruch darin, das Buch am Arbeitsplatz zu verbieten und es zu Hause in seltenen Erstausgaben auszustellen. Bücher waren Antiquitäten wie jedes andere Artefakt aus der Vergangenheit. Genauso gut hätte man einen Sammler von venezianischen Kronleuchtern oder Regency-Kommoden dafür rügen können, dass er elektrisches Licht oder eine Toilette mit Wasserspülung benutze. Hoffmann schob den Band unter seinen Mantel und blickte kurz schuldbewusst zu einer der winzigen Überwachungskameras hinauf.
»Na, Professor, wer verstößt denn da gegen die eigenen Regeln?«, sagte Quarry und nahm seinen Schal ab. »Starkes Stück.«
»Hatte ganz vergessen, dass ich es dabeihabe.«
»Na klar. Wer’s glaubt. Dein oder mein Büro?«
»Weiß nicht. Egal, von mir aus deins.«
Der Weg zu Quarrys Büro führte durch den Handelsraum. Der japanische Markt würde in einer Viertelstunde schlie ßen, die europäischen Börsen würden um neun Uhr öffnen, und schon jetzt steckten knapp fünfzig quantitative Analysten – Quants, wie sie im geringschätzigen Börsenjargon hießen – bis zum Hals in Arbeit. Wenn sie sprachen, dann höchstens im Flüsterton. Die meisten starrten stumm auf die sechs Monitore ihrer Multi-Screen-Computer. Auf riesigen Plasmabildschirmen liefen mit ausgeschaltetem Ton CNBC und Bloomberg. Unter den Fernsehern zeigte eine Serie von leuchtend roten Digitaluhren lautlos die unerbittlich verstreichende Zeit in Tokio, Peking, Moskau, Genf, London und New York an. Das war das Geräusch von Geld in der zweiten Dekade des 21. Jahr hunderts. Das gelegentliche leise Klackern von Computertastaturen war der einzige Hinweis darauf, dass überhaupt Menschen anwesend waren.
Hoffmann hob seine Hand an den Hinterkopf und befühlte das harte, runzelige Lächeln seiner Wunde. Er fragte sich, wie viel man davon sehen konnte. Vielleicht sollte er eine Baseballkappe tragen? Er war sich bewusst, dass er unrasiert war und blass aussah. Er versuchte, jeden Blickkontakt zu vermeiden, was allerdings nicht sonderlich schwer war, da kaum einer auch nur den Kopf hob, als er den Raum durchquerte. Neun von zehn seiner Quant-Truppe waren Männer. Warum, dafür hatte auch Hoffmann keine Erklärung. Es gab keine entsprechende Firmenpolitik, es bewarben sich einfach mehr Männer. Üb licherweise solche, die das Zwillingselend des akademischen Betriebs – die Gehälter waren zu niedrig, die Trauben hingen zu hoch – hinter sich lassen wollten. Ein halbes Dutzend war vom Large Hadron Collider zu ihm gewechselt. Hoffmann wäre nie auf den Gedanken gekommen, einen Bewerber einzustellen, der keinen Doktortitel in Mathematik oder Physik vorzuweisen hatte und der nach dem Urteil von Fachkollegen nicht zu den besten fünfzehn Prozent auf seinem Gebiet zählte. Nationalität spielte ebenso wenig eine Rolle wie soziale Kompetenz, was zur Folge hatte, dass Hoffmanns Belegschaft gelegentlich den Eindruck einer UN -Konferenz über das Asperger-Syndrom vermittelte. Quarry bezeichnete ihren Laden als Welt der Nerds. Die durchschnittliche Bonusausschüttung des letzten Jahres betrug fast eine halbe Million Dollar pro Kopf.
Nur fünf Leute im Management hatten eigene Büros: die Leiter der Abteilungen Finanzen, Risikomanagement und Operatives Geschäft, außerdem Hoffmann als Präsident und Quarry, der als CEO die Geschäfte des Unternehmens leitete. Die Büros waren die üblichen schalldichten Glaskästen mit weißen Jalousien, beigefarbenem Teppichboden und skandinavischen Möbeln aus hellem Holz und Chrom. Von Quarrys Fenstern aus blickte man hinunter auf die Straße und direkt gegenüber auf eine deutsche Privatbank, die sich mit schweren Gardinen vor fremden Blicken schützte. Quarry ließ sich gerade von Benetti in Viareggio eine
Weitere Kostenlose Bücher