Angst
bewusst, dass er wie ein erschöpftes Tier stoßweise keuchte. Nach ein paar Minuten ließ das krampfhafte Zittern nach, und er kam wieder zu Atem. Er fühlte sich gleich viel besser, sogar leicht euphorisch – die billige Katharsis eines Weinanfalls. Er begriff, dass das zu einer Sucht werden konnte. Er richtete sich wieder auf, nahm die Brille ab, wischte sich mit zitternden Fingern die Tränen aus den Augen und fuhr dann mit dem Handrücken über die Nase. Er blies die Backen auf. »O Gott«, flüsterte er. »O Gott.«
Ein paar Minuten lang blieb er regungslos sitzen, bis er sich sicher war, dass er sich wieder gefangen hatte. Dann stand er auf, ging zum Kleiderständer und zog das Darwin- Buch aus der Tasche seines Regenmantels. Er legte es auf den Schreibtisch und setzte sich wieder. Der 138 Jahre alte grüne Leineneinband und der leicht ausgefranste Rücken wirkten in seinem Büro, wo nichts älter als sechs Monate war, in höchstem Maße fehl am Platz. Zögernd öffnete er das Buch an der Stelle, an der er kurz nach Mitternacht seine Lektüre beendet hatte (Kapitel XII: »Ueberraschung – Erstaunen – Furcht – Entsetzen«). Er nahm die Visitenkarte des holländischen Buchhändlers heraus. Rosengarten & Nijenhuis, Antiquariat für wissenschaftliche & medizinische Bücher. Gegründet 1911. Er griff nach dem Telefon. Nachdem er kurz überlegt hatte, ob dies der beste Weg war, wählte er die Nummer des Buchladens in Amsterdam.
Das Telefon klingelte lange. Kein Wunder, es war noch vor halb neun. Aber Hoffmann hatte kein Gespür für Zeit. Wenn er selbst an seinem Schreibtisch saß, ging er davon aus, dass alle anderen das Gleiche taten. Er ließ es klingeln und klingeln und dachte dabei an Amsterdam. Zwei Mal war er dort gewesen. Er mochte die Eleganz der Stadt, ihren Sinn für Geschichte. Sie hatte Esprit. Wenn all das vorbei war, musste er mit Gabrielle hinfahren. Sie konnten in einem Café Dope rauchen – deshalb fuhr man doch nach Amsterdam, oder? – und sich in einem Dachzimmer eines Boutique-Hotels den ganzen Nachmittag lieben. Er lauschte den langen Klingeltönen und stellte sich ein Telefon in einem verstaubten Buchladen vor: kleine gewellte Bleiglasscheiben aus der Jahrhundertwende; in einer Kanalstraße mit Kopfsteinpflaster und Bäumen; hohe Regale mit wackeligen Trittleitern; komplizierte wissenschaftliche Instrumente aus glänzendem Messing – ein Sextant vielleicht, ein Mikroskop; einen betagten Bücherliebhaber, gebückt und kahlköpfig, der die Tür abschloss und es gerade noch zu seinem Schreibtisch schaffte, um den Hörer abzuheben …
»Goedemorgen. Rosengarten en Nijenhuis.«
Die Stimme war weder betagt noch männlich, sondern jung und weiblich. Ein beschwingter Singsang.
»Sprechen Sie englisch?«, fragte er.
»Aber sicher. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Er räusperte sich und rutschte auf dem Stuhl etwas vor. »Ich glaube, Sie haben mir vorgestern ein Buch geschickt. Mein Name ist Alexander Hoffmann. Ich bin aus Genf.«
»Hoffmann? Ja, Doktor Hoffmann! Natürlich, ich erinnere mich. Die Darwin-Erstausgabe. Ein wunderschönes Buch. Sie haben es also schon. Dann hat das mit der Lieferung ja bestens geklappt.«
»Ja, ich habe das Buch. Aber es lag kein Schreiben bei, ich kann mich also gar nicht bei demjenigen bedanken, der es mir geschenkt hat. Könnten Sie mir da weiterhelfen?«
Es entstand eine Pause. »Alexander Hoffmann, sagten Sie, richtig?«
»Ja.«
Diesmal war die Pause länger, und als das Mädchen wieder sprach, klang es etwas verwirrt. »Sie haben das Buch selbst gekauft, Doktor Hoffmann.«
Hoffmann schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien es ihm, als wäre sein Büro leicht zur Seite gekippt. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Ich habe es nicht gekauft. Da muss sich jemand für mich ausgegeben haben.«
»Aber Sie haben es selbst bezahlt. Sind Sie sich sicher, dass Sie es nicht einfach vergessen haben?«
»Wie habe ich bezahlt?«
»Per Banküberweisung.«
»Und wie viel?«
»Zehntausend Euro.«
Mit der freien Hand umklammerte Hoffmann die Schreibtischkante. »Moment. Wie ist das abgelaufen? Ist jemand in Ihren Laden gekommen und hat gesagt, er sei Hoffmann?«
»Es gibt keinen Laden. Schon seit fünf Jahren nicht mehr. Nur ein Postfach. Wir sitzen jetzt in einem Lagerhaus außerhalb von Rotterdam.«
»Aber irgendwer muss ja wenigstens mit mir telefoniert haben, oder?«
»Nein, dass man mit einem Kunden spricht, kommt heutzutage nur
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