Angstfalle
Martha die Küche aufräumte, gesellte sich Kullmann zu ihr. Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Einerseits fühlte sich Anke wohl und doch war es ungewohnt den ehemaligen Chef in solcher Vertrautheit zu erleben. Da saßen sie nun wie eine Familie zusammen, sprachen über ihr Leben – nicht wie sonst über ihre Arbeit. Sie hatte Mühe das zu realisieren. Früher hatte sie immer darauf gelauert, mal ein persönliches Wort von Kullmann zu hören. Aber damit geizte er, solange er ihr Vorgesetzter war. Heute gab er sich anders. Lässig lehnte er sich in seinem Sessel zurück und schwelgte in Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
Er begann zu erzählen, wie er als Kind Weihnachten erlebt hatte.
»Mein Bruder und ich waren echte Lausebengel. Wir hatten nur Unfug im Kopf. Damit gelang es uns, unseren Vater von seinen schwermütigen Kriegserinnerungen abzulenken. Wir konnten ihn sogar zum Lachen bringen.«
»Du hast einen Bruder?«
»Ich hatte einen Bruder. Günther starb ein Jahr nach dem Krieg an Tuberkulose.«
»Oh! Das tut mir leid.«
»Ja, es war traurig. Vermutlich das Ergebnis der vielen Evakuierungen.«
Nachdenklich kratzte Kullmann sich am Kopf.
»Am Tag der Kriegserklärung Frankreichs und Englands gegen die Deutschen, am 3. September 1939, mussten alle Menschen in den grenznahen Gebieten, die zur Roten Zone erklärt worden waren, ihre Heimat verlassen. Mein Bruder war damals drei Jahre alt, ich zwei Wochen. Für meine Mutter eine große Strapaze, aber sie hat es geschafft. Als der Krieg vorbei war und wir alle glaubten, die Gefahr sei gebannt, starb Günther an einer Krankheit, die er verschleppt hatte.«
Eine kurze Stille trat ein.
Anke räkelte sich auf dem Sofa. Die Wolldecke rutschte zur Seite und ihr dicker Bauch kam zum Vorschein. Schnell wickelte sie sich wieder gemütlich darin ein.
»An der Stelle des Winterberg-Krankenhauses, in dem du deine letzten Monate verbracht hast – und wie es aussieht noch einige Zeit bleiben wirst – stand bis zum September 1939 das Winterbergdenkmal«, fiel Kullmann bei dieser Beobachtung ein. »Das Denkmal war zum Andenken an die Saarheimat-Gefallenen des Deutsch-Französischen-Krieges 1870 errichtet worden.«
»Was ist daraus geworden?«
»Hitler hatte zu Beginn des II. Weltkrieges veranlasst, alle markanten Bauwerke, von denen er befürchtete, dass sie dem Feind als Richtpunkt dienen könnten, in die Luft zu jagen. Dazu gehörte dieses Gebäude, das als Wahrzeichen Saarbrückens galt.«
Kullmann erzählte bis spät in den Abend hinein. Erst als Martha zu bedenken gab, dass Anke ihren Schlaf brauchte, wünschte er eine gute Nacht.
Die junge Frau ließ sich erschöpft ins Bett sinken, als habe sie Schwerstarbeit geleistet.
»Ich lasse die Tür auf, wenn es dir recht ist«, erklärte Martha. »Dann kann ich dich hören, sollte etwas nicht in Ordnung sein.«
»Ihr seid so herzensgut. Wie kann ich das nur wieder gut machen?«
»Indem du ein gesundes Mädchen zur Welt bringst«, lautete die Antwort.
4
Es war Heiligabend.
Trixi wachte nach einem unruhigen Schlaf auf, fühlte sich übernächtigt und krank. Während sie sich im Wohnzimmer umsah, überkam sie eine große Traurigkeit. Seit Käthe gegangen war, kam ihr das Haus leer vor. Schwerfällig wankte sie in die Küche. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um ihre schlechte Laune zu verstärken. Es hatte in der Nacht geschneit. Alles war weiß. Als Käthe noch bei ihr wohnte, hatte sie sich über jede einzelne Schneeflocke gefreut. Jetzt war das anders. Mürrisch musterte sie die leere Kaffeedose; das Kaffeepulver war ausgegangen. Kurzerhand beschloss sie frühstücken zu gehen, was ihre Laune sofort hob.
Sie wollte sich gerade anziehen, als es klingelte. Vorsichtshalber eilte sie ins Wohnzimmer und schaute vom Erkerfenster auf die Haustür.
Sie traute ihren Augen nicht.
Bruno Dold stand mit einem Geschenk in der Hand vor der Tür.
Sie hätte sich gerne versteckt, aber er hatte sie schon gesehen und rief: »Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich.«
Frustriert öffnete sie das Fenster und antwortete: »Ich dachte, ich hätte endlich meine Ruhe vor dir.«
»Nicht so garstig, meine Liebe. Ich habe schmackhafte Pralinen für uns beide. Wenn wir uns schon nicht gegenseitig vernaschen, dann können wir doch wenigstens leckere Süßigkeiten genießen.«
»Ich möchte das nicht«, sagte sie abwehrend.
»Schade! Trotzdem lasse ich die Pralinen hier. Wenn du dann von den Leckereien
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