Angsthauch
Karibik vier . Man kann sogar sehen, wie die Leute im Kino aufstehen, um aufs Klo zu gehen!«
»Au ja!« Liam und Effie sprangen auf ihre Stühle und reckten die Fäuste in die Luft. Offenbar galt das Anschauen von Raubkopien in ihrem Haushalt als etwas ganz Besonderes. Der Eklat um Tiger war vergessen, und die Kinder verschwanden in dem Zimmer, das Simon als Vorführraum bezeichnete – in Wirklichkeit war es bloß ein zweites Woh nzimmer mit einem Laptop plus Beamer, der auf eine große weiße Wand ausgerichtet war.
»Also dann, meine Freunde«, sagte Simon, während die Kinder es sich auf den mit Plüsch bezogenen Sitzsäcken bequem machten. »Wenn ihr jemanden seht, der aufsteht, um pinkeln zu gehen, müsst ihr laut ›Harr-harr‹ rufen, verstanden? Außerdem gibt es für alle, die ansonsten mucksmäuschenstill sind, Seebär Simons Spezial-Toffee-Popcorn. Alles klar, Freunde?«
»Aye, aye, Käpt’n!«, riefen die Zwillinge und salutierten. Selbst Nico konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Film ging los, und die Kinder versanken in andächtigem Schweigen.
Rose und Simon zogen sich wieder in die Küche zurück.
»So. Damit dürfte ich ein bisschen Zeit für uns rausgeschunden haben. Die Jungs sind ganz schön anstrengend.«
»Wem sagst du das!«, meinte Rose. »Macht es dir was aus, wenn ich Floss stille?«
»Für mich gibt es keinen schöneren Anblick.« Simon stand auf, um noch einen Tee zu kochen. Rose knöpfte sich die Bluse auf und legte Flossie an, dann ließ sie den Blick über den Krimskrams und die halbfertigen Bastelprojekte der Zwillinge schweifen. In einer flachen Schüssel hatten sie einen Miniaturgarten angelegt, mit Moos als Rasen. Daneben stand eine mit Plakatfarbe angemalte Burg aus Pappmaché, deren Zinnen aus Klopapierrollen von Plastiksoldaten bewacht wurden. Rose musste daran denken, wie viele ähnliche Bastelarbeiten früher im Nebengebäude herumgestanden hatten, und sie seufzte, als sie sich daran zu erinnern versuchte, wann sie sich das letzte Mal mit Anna zum Basteln hingesetzt hatte, ganz in Ruhe, ohne zankende Jungs, ohne schreiendes Baby.
»Ist alles in Ordnung?« Simon setzte sich ihr gegenüber und stellte einen Becher Tee vor sie hin.
»Was sagst du?« Mit einem Ruck war sie aus ihren Gedanken gerissen.
»Du wirkst heute ein bisschen … abwesend. Das hat doch nichts mit mir und ihr zu tun, oder?«
»Was? Nein, wie gesagt, das habe ich längst vergessen.«
»Was ist es dann?«
»Ach, nichts. Ich glaube, ich bin einfach nur ein bisschen müde. Nach dem Krankenhausaufenthalt bin ich noch nicht wieder richtig in Tritt gekommen. Und dann die ganzen Sorgen. Wegen Flossie, weißt du?«
»Natürlich.« Simon nahm ein Schluck aus seinem Becher und sah Rose aufmerksam an. »Aber abgesehen davon, läuft bei euch zu Hause alles gut? Zwischen dir und Gareth, meine ich?«
»Natürlich«, sagte Rose wie aus der Pistole geschossen. »Es könnte gar nicht besser sein zwischen uns.«
»Sicher.« Simon senkte den Blick.
»Alles wie immer. Da gibt es überhaupt keinen Grund zur Sorge.«
»Schön. Und wie läuft es mit Polly?«
»Gut.«
»Besteht denn die Aussicht, dass sie bald weiterzieht?«
»Vielleicht. Nach gestern Abend … aber das muss sie selbst entscheiden.«
»Ja.«
»Ich kann sie nicht zu etwas drängen, wozu sie noch nicht bereit ist.«
»Natürlich nicht.« Simons Blick glitt zum Fenster hinaus. Dann, als hätte er einen Entschluss gefasst, wandte er sich wieder zu Rose, langte über den Tisch und nahm ihre Hand.
»Rose, du musst zusehen, dass du sie loswirst. Du steuerst auf eine Katastrophe zu. Sie ist gefährlich.«
»Das sagst du nur, weil sie dich gekränkt hat.«
»Mag sein, aber ich habe Augen im Kopf, und ich weiß, was ich sehe. Ich musste mir anhören, was sie über euch zwei erzählt hat, wenn du nicht dabei warst. Wirf sie raus, Rose.«
»Ich will das nicht hören, Simon.«
Er stand auf und ging um den Tisch herum. Er setzte sich neben sie und hielt sie bei den Schultern fest. »Also gut, ich erspare dir die Einzelheiten, aber ich kann es nicht deutlich genug sagen: Sieh zu, dass sie aus eurem Leben verschwindet. Wo sie hingeht, richtet sie Unheil an. Mein Leben hat sie bereits ins Chaos gestürzt. Ich sage das nicht nur aus Eigennutz – obwohl es weiß Gott besser für mich wäre, wenn sie nicht nebenan wohnen würde. Ich sage es um deinetwillen, weil du eine gute Freundin bist und ich nicht will, dass du auch noch verletzt wirst.
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